„Unbezahlte Arbeit“ messen – ohne das Beziehungsgefüge zu erfassen

Jüngst wurde in den Medien, hier z. B. in der Tagesschau, über die Oxfam-Studie zu sozialer Ungleichheit weltweit berichtet. Darin ging es auch um den Umfang „unbezahlter Arbeit“, der täglich geleistet werde, laut Studie habe er ein Volumen von 12 Mrd. Stunden pro Tag weltweit. Geleistet werden sie überwiegend von Frauen und Mädchen. Das ist nicht überraschend, denn wer die Zeitverwendungsstudien des Statistischen Bundesamtes kennt, ist über die Lage für Deutschland gut informiert. Nach den letzten Erhebungen 2013 (hier ausführlicher) ist der Umfang unbezahlter Arbeit ein Viertel höher als der bezahlter. In der Studie von 2002 war der Unterschied noch etwas stärker.

Hat die Bedeutung unbezahlter Arbeit deswegen abgenommen? Zu diesem Schluss könnte man gelangen, wenn die Relation zur bezahlten Arbeit betrachtet wird. Der Grund allerdings für die leichte Abnahme ist lediglich einer der Kategorisierung. In dem Moment, da Haushaltstätigkeiten ausgelagert werden, z. B. an Kitas, Reinigungskräfte, Kochdienste usw. sinkt das Volumen unbezahlter Arbeit. Wird zugleich bezahlte Arbeit von denjenigen aufgenommen, die zuvor unbezahlte geleistet haben, steigt dieses Volumen. Andere Faktoren spielen hierbei auch eine Rolle, z. B. demographische Veränderungen. Das alles ist nicht neu und findet auch Beachtung in methodischen Erläuterungen der Studien. Weniger Beachtung hingegen findet – so auch in der jüngsten Berichterstattung – der Umstand, was denn durch die statistischen Verfahren überhaupt erhoben wird. Norbert Schwarz und Florian Schwahn stellen ihrem Beitrag über die Veränderung unbezahlter Arbeit privater Haushalte eine differenzierte methodische Bemerkung voran, wie denn überhaupt gemessen werden kann und was dies voraussetzt. Dazu bedarf es vor allem einer Abgrenzung beider „Arbeits“-Formen. Setzt man hierfür das Kriterium bezahlt oder nicht bezahlt an, scheint es noch einfach. Immerhin lässt es sich abgrenzen.

Worüber die Abgrenzung aber keine Auskunft gibt, sie auch nicht geben kann, ist, welche Unterschiede im Beziehungsgefüge dieser Arbeitsformen bestehen. So stellt es die Forscher vor ein Problem, wie denn Erziehungszeiten zu messen sind, wenn z. B. Eltern gar nicht direkt mit ihren Kindern in eine gemeinsame Aktivität involviert sind, sondern nur in der Nähe sich aufhalten, während ihr Kind im anderen Zimmer spielt; wenn in der Küche gekocht wird, das Kind aber nur in der Nähe dabei sein will oder im selben Raum sich selbst beschäftigt. Solange sie sich nicht direkt einander zuwenden, ist es eine Frage der Definition, ob denn das nun „Erziehungszeit“ ist oder nicht. Die bloße Anwesenheit ist einer solchen Definition zufolge noch keine Aktivität. Wer Kinder hat, weiß aber, dass der Anteil des bloßen Präsentseins sehr wichtig ist, die Ansprechbarkeit, ohne dass etwas darüber hinaus Bestimmtes verlangt wird. Schon hierbei wird klar, welche Probleme das methodisch mit sich bringt, denn würde dieses Anwesendsein berücksichtigt, explodierte der Umfang unbezahlter Arbeit. Wir sprechen hier noch gar nicht von der nächtlichen Präsenz für all die Anliegen von Kindern.

Vollends vorbei ist es, und das räumen Schwarz und Schwahn ein, wenn die Besonderheit der Beziehung zwischen Eltern und Kindern oder anderen nahestehenden Personen berücksichtigt wird (siehe hier und hier) – sie lässt sich nicht messen. Worüber Zeitverwendungsstudien auf der Basis statistischer Verfahren also gar keine Auskunft geben, worüber das gemessene Volumen in Stunden unbezahlter Arbeit pro Jahr keine Auskunft gibt, ist, welche Bedeutung die besondere Beziehung zwischen hier zuvörderst Eltern und Kindern, aber auch anderen Menschen, denen man sich um ihrer selbst willen zuwendet, hat. Das ist auch eine Schwäche des „Care“-Begriffs, der es als solcher ebenso wenig erlaubt, die Eigenheiten des Beziehungsgefüges zu erfassen. Wie wichtig es ist, füreinander da zu sein, ohne miteinander direkt etwas unternehmen zu müssen, das ist gerade bei Kindern von großer Bedeutung. So hilfreich es also sein mag, um auf den Stellenwert unbezahlter Arbeit aufmerksam zu machen, so sehr verkürzt das bloße Messen des Stundenvolumens, worum es geht. Eine Verschlimmbesserung ist es, wenn mit guten Absichten versucht wird, unbezahlter Arbeit einen Preis zuzuordnen, um sie mit bezahlter Arbeit vergleichbar zu machen – Beziehung erhält einen Warenwert.

Und nun? Entscheidend bleibt für das Verständnis, auf die Besonderheit bestimmter Tätigkeiten auf der Basis ihres besonderen Beziehungscharakters hinzuweisen. Statt von Haushaltstätigkeiten und unbezahlter Arbeit zu sprechen, wäre es also wichtiger, die spezifischen Tätigkeiten zu benennen und in ihrer Eigenheit zu bestimmen. Sozialisatorisch hat Familie eine ganz andere Bedeutung und einen ganz anderen Stellenwert als Bildungsinstitutionen, sie sind nicht durcheinander ersetzbar, wie es die Debatte um Ganztagsbetreuung und -schule suggeriert. Es geht eben nicht einfach darum, „social skills“ auszubilden oder „sozialen Austausch“ zu haben. Den hat ein Säugling unmittelbar nach der Geburt schon vor allem mit der Mutter und dem Vater. Entscheidend ist, welche Beziehung diesem Austausch unterliegt und in welcher Phase der Entwicklung was wichtig ist. Wer diesen besonderen Beziehungen (in der Soziologie spricht man auch von diffusen Sozialbeziehungen) nicht den Raum und die Zeit gibt, die sie benötigen, muss sich über Folgen nicht wundern. Doch in Zeiten, in denen Wahlfreiheit und „Selbstbestimmung“ individualistisch missverstanden werden, ist es schwer darüber zu diskutieren, dass die Aufmerksamkeit darauf, was Kinder benötigen, damit einhergeht, eigene Interessen als Eltern sehr weit zurückzustellen (so weit der Einzelne es aushalten kann, das darf nicht vergessen werden). Das ändert sich zwar altersspezifisch, werden Kinder älter, ist es immer weniger nötig, bleibt aber lange dominierend, sofern ernstgenommen wird, was Kinder artikulieren. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen wäre hier deswegen enorm hilfreich, weil es genau dies ausdrücklich anerkennen würde, nicht individualistisch, sondern durch das Gemeinwesen. Das würde es für jeden einfacher machen, sich dieser Herausforderung zu stellen, ohne erwerbstätig sein zu müssen und zu sollen.

Sascha Liebermann