Norbert Häring beschäftigt sich in einem Blogbeitrag mit der Haltung Wolfgang Streecks, Prof. em. und ehemaliger Direktor des Max Planck Instituts für Gesellschaftsforschung, zu seinen früheren Einlassungen zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Ende der 1990er Jahre. Warum das alles kann man sich fragen, ist Streeck doch heute ein vehementer Kritiker der Entwicklung der vergangenen Jahre oder Jahrzehnte? Weil er sich von seinen früheren Äußerungen nie öffentlich distanziert hat, obwohl er zu denjenigen gehört, die viel und regelmäßig publizieren. Warum wäre eine Distanzierung und zumindest erläuternde Einordnung zu seinen damaligen Ausführungen wichtig? Weil seine damaligen Einlassungen genauso klingen, wie die einst vorherrschende Haltung einer „welfare to work“-Politik. Häring zitiert hierfür folgende Passage aus einem bekannten Spiegelartikel, den Streeck gemeinsam mit Rolf Heinze veröffentlichte:
„Das wichtigste Instrument einer neuen Arbeitsmarktpolitik im Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft ist – der Markt. (…) Aus Arbeit herausgenommen zu werden ist weder eine Wohltat noch gar ein Recht; (fast) jeder Arbeitsplatz ist besser als keiner, auch deshalb, weil die wichtigste Voraussetzung dafür, einen besseren Arbeitsplatz zu finden, darin besteht, erst einmal überhaupt einen zu haben. Auch neigen Menschen dazu, sich in Abhängigkeit und Randständigkeit einzurichten, wenn ihnen die Erfahrung vorenthalten wird, daß sie für sich selbst sorgen können.
In unseren nordwesteuropäischen Nachbarländern weiß man längst, daß es zu den Solidaritätspflichten der Gemeinschaft gehört, ihre Mitglieder nicht vor Marktzwängen zu schützen, die sie dazu bewegen könnten, sich noch einmal aufzuraffen. (…) Lohnkostenzuschüsse sollten bevorzugt an Zeitarbeitsfirmen gezahlt werden, die Arbeitslose zu tariflichen Bedingungen einstellen. Tariflich geregelte Beschäftigung in Zeitarbeitsfirmen ist ein idealer Weg, soziale Sicherung und Flexibilität miteinander zu verbinden. (…) Die sich abzeichnende Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien und die Politik eines raschen Entzugs von Leistungen bei Ablehnung eines Beschäftigungsangebots müssen konsequent verwirklicht werden. (…) Auch wäre ein vermehrter Einsatz von Zeitarbeitsfirmen nur möglich, wenn auch von Arbeitslosen ein höheres Maß an räumlicher und beruflicher Mobilität erwartet werden könnte.“
Streeck mag mit manchem der damals realisierten Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nicht einverstanden gewesen sein, der Geist, der aus diesem Artikel indes spricht ist der von „workfare“. Häring übersieht allerdings, dass auch Oskar Lafontaine damals ein Vertreter dieser Haltung war, auch er hat eine erstaunliche Wandlung durchgemacht, ohne sich von seinen Äußerungen öffentlich zu distanzieren – zumindest ist mir keine solche Distanzierung bekannt. Im Deutschen Bundestag schlug er damals folgendes vor: „Ich möchte zu den Angeboten auf dem Arbeitsmarkt eines hinzufügen: Wir können hier von Skandinavien und vielleicht auch von den angelsächsischen Ländern noch lernen. Das ist meine Überzeugung. Wir können lernen, daß das Angebot auf dem Arbeitsmarkt allein nicht ausreichend ist; vielmehr muß es mit Maßnahmen verbunden sein, die dazu führen können, daß Mitbürgerinnen und Mitbürger, die dieses Angebot nicht annehmen wollen, mit Kürzungen und Streichungen bei den sozialen Transferleistungen zu rechnen haben. Ich meine, daß es nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten in unserem Staat gibt. Dies muß auch in der Sozialgesetzgebung zum Ausdruck kommen.“ (Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 14/ 20 – 14. Wahlperiode, 20. Sitzung, 23. Februar 1999, S. 1408).
Streeck wie Lafontaine entsprachen damit ganz dem Zeitgeist, denn in den USA war unter Clinton schon der Weg zu „workfare“ beschritten worden, in der Schweiz ebenso, „Wisconsin works“ galt als Vorbild in der deutschen Debatte über Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Jüngst ging die Meldung „Unionspolitiker fordern Arbeitsdienst für Langzeitarbeitslose“ durch die Medien – workfare feiert Urständ. Ist das überraschend?
Keineswegs. Solange am normativen Vorrang von Erwerbstätigkeit unbeirrt festgehalten wird, solange ist es kaum möglich, die entsprechende Haltung aufzugeben, dass diejenigen, die nicht erwerbsbereit oder nicht erwerbswillig sind, mit Sanktionen bedroht werden müssen. Das war im existierenden Sozialstaat von Anbeginn so, schon mit Einführung des Bundessozialhilfegesetzes (siehe hier und hier), hat allenfalls eine Verschärfung durch die Agenda 2010 erfahren. Nun gibt es deutliche Kritik an Sanktionen, doch der normative Vorrang von Erwerbstätigkeit wird dabei meist nicht in Frage gestellt, auch von Norbert Häring nicht, wie seine doch recht undifferenzierte Kritik am Bedingungslosen Grundeinkommen in der Vergangenheit erkennen ließ (siehe hier, hier und hier). Das ist umso überraschender, als er sehr wohl Distanz zu einer Haltung erkennen lässt, die Erwerbstätigkeit über alles stellt, wenn er z. B. eine vorschnelle Verabschiedung des Ehegattensplittings kritisiert.
Es ist also wohlfeil, das bestehende Sanktionssystem mit allen Stigmatisierungseffekten zu kritisieren, seinen Dreh- und Angelpunkt aber nicht antasten zu wollen. Was damals, Ende der 1990er Jahre Zeitgeist gewesen ist, ist als Haltung nicht wirklich verschwunden, wird jedoch häufig nicht offen eingestanden.
Sascha Liebermann