Diese Frage wirft der Beitrag von Nikolaus Blome auf Spiegel Online auf. Die Einseitigkeit seiner Haltung hatte ich gestern schon kommentiert, da Blome einen Gegensatz zwischen Solidarität und Bedingungslosem Grundeinkommen entwirft, der so nicht besteht, es sei denn, Haltung gewinne man durch sanktionsbewehrte Sozialleistungen. Es finden sich in dem Beitrag noch andere Passagen, die ähnlich einseitig sind. Blome schreibt:
„Das [Aussetzen von Sanktionen, SL] aber stuft den Wert von Arbeit und Arbeiten weit herunter, weil das individuelle Bemühen darum der Allgemeinheit fortan gleichgültig zu sein hat. Seit Beginn der Coronapandemie sind übrigens auch die Vermögenskontrollen und die Prüfung auf angemessenen Wohnraum ausgesetzt. Kurzum: Mit diesem letzten Federstrich hat die Bundesregierung de facto ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt, das obendrein von den markanten Inflationstreibern Miete und Heizung entkoppelt ist, weil dafür ja das Amt zahlt.“
Blome erwähnt in keiner Weise, dass es um das Existenzminimum geht und die Diskussion über Sanktionen eine ist, die sich dagegen ausspricht, das Minimum unter Vorbehalt zu stellen. Wenn, wie es weiter heißt, mit dem Aussetzen der Sanktionen die „Allgemeinheit“ nichts mehr an Gegenleistung erwarten dürfe, stuft das keineswegs den „Wert von Arbeit […] herunter“, es hebt hingegen heraus, dass erfolgreiche „Arbeit“ voraussetzt, dass sie zu einer Person passt und diese zu ihr. Apropos Haltung – die Haltung, die darin zum Ausdruck kommt, ist die, von der grundsätzlichen Bereitschaft bis zum Beweis des Gegenteils auszugehen, es ist dieselbe Haltung, die der Demokratie innewohnt und in der sie davon ausgeht, dass eine solche Bereitschaft sich nicht erzwingen lasse, ohne sich die eigenen Grundlagen wegzuziehen.
Blome erwähnt übrigens selbst, dass der geringste Teil der Leistungsbezieher sanktioniert wird, wäre das nicht um so mehr Grund dafür zu überlegen, welche Beschwernisse denn vorliegen, wenn sanktioniert wird? Schon vor der Pandemie lag die Sanktionsquote im Arbeitslosengeld II bei etwa 3 Prozent, wobei etwa drei Viertel der Sanktionen auf Meldeversäumnisse zurückgingen. Wirkliche Verweigerung, die Blome offenbar beschäftigt, hatte einen sehr geringen Anteil. Verweigerung im Sinne des Gesetzgebers, ohne die Gründe dafür zu eruieren. Gründe aber sind entscheidend.
„Der großartige Franz Müntefering sagte einmal, man erkenne Hartz-4-Haushalte oftmals leider auch daran, dass keine Uhr mehr an der Wand hänge. Müntefering meinte das nicht von oben herab, er war einfach nur der Meinung, dass Arbeit dem Tag eine pünktlichkeitsgebietende Struktur gibt und dem Menschen Würde.“
Hier sieht man erneut, woran es hakt, Blome versteht Würde nicht als etwas, dass der Person als solcher zukommt, sondern durch etwas anderes, Arbeit, erst erreicht wird. Würde er von Entfaltungsmöglichkeiten sprechen, die der Würde gemäß wären, wäre das treffend, davon spricht er aber nicht – es geht nur um Erwerbsarbeit, nicht Sorgetätigkeiten in der Familie, gegenüber Angehörigen, für die Freiwillige Feuerwehr usw. Wieviele Hartz IV-Haushalte hat Franz Müntefering wohl gesehen? Weshalb – wenn an der Geschichte überhaupt etwas dran ist – hing denn dort „oftmals“ keine Uhr? Pünktlichkeit ist mehr als eine formale Oberflächlichkeit, es geht dabei um Verbindlichkeit gegenüber anderen Personen, darum, sich an Vereinbarungen zu binden. Wenn das jemand nicht mehr kann, hat er ganz andere Probleme, die ernst genommen werden sollten – sanktionsbewehrte Leistungen sind aber nicht die angemessene Antwort. Auch das erwähnt Blome nicht, er mag solche Lebenslagen nicht kennen, dann wäre es besser, nicht darüber leichtfüßig hinwegzugehen. Er schließt seinen Beitrag folgendermaßen:
„Deshalb frage ich: Was zum Teufel läuft schief in diesem System, dass die Arbeit suchenden Menschen nicht zu denen finden, die Arbeiter suchen. Dieses Vollversagen ist die eigentliche Sauerei und nicht die Sanktionen. Symbolpolitiker/in der übelsten Sorte muss darum sein, wer die Abschaffung der Hartz-4-Sanktionen als gesamtgesellschaftlichen Durchbruch feiert, solange das himmelschreiende Vermittlungsdefizit nicht kleiner wird. Offenbar geht es den Helden des Sanktionsmoratoriums um links-grüne Haltung, nicht ums Helfen: Die Betroffenen sollen in der Verwaltung ihrer Arbeitslosigkeit Wasserwaagen-genau gleichbehandelt werden – und irgendwann wird vielleicht auch einmal geschaut, wie man ihnen einen neuen Arbeitsplatz verschafft, von denen es da draußen für viele genug zu geben scheint.“
Was also läuft schief? Blome realisiert nicht, dass die Sanktionsbewehrung nicht nur Leistungsbezieher trifft, in ihr drückt sich eine Haltung aus, und zwar eine Haltung gegenüber dem Einzelnen. Nicht er ist um seiner selbst willen wertvoll, er ist es dann, wenn er „der Allgemeinheit“ etwas zurückgibt. Damit steht er in seiner Wertigkeit unter Vorbehalt. Dieselbe Allgemeinheit nimmt dabei gerne unbezahlte Arbeit in Anspruch, ohne zu fragen, woher die engagementbereiten Bürger denn kommen, wenn nicht aus den Familien, die sich Zeit für ihre Kinder nehmen müssen, damit das gelingen kann. Die Aufhebung von Sanktionen – wie schon der erwähnte Scheingegensatz gestern – widerspricht nicht der Aufgabe, Beratung anzubieten, Beratung allerdings, die ein Angebot darstellt und nicht als Vorladung daherkommt. Das übrigens hat mit links-grün gar nichts zu tun, sondern mit dem Grundverständnis unserer Demokratie. Auch helfen Sanktionen keinem Unternehmen, keiner Organisation, die verlässlich Aufgaben zu bewältigen hat, denn dazu braucht es Mitarbeiter, die das weitgehend eigenständig tun, nicht aber solche, die das nicht wollen. Die Chancen dafür, solche zu finden, sind am größten, wenn man sich dem frei zu- oder davon auch abwenden kann.
Sascha Liebermann