…so Jürgen Schupp, Professor für Soziologie an der FU Berlin und Direktor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, in einem Interview mit Kristina Antonia Schäfer in der Wirtschaftswoche.
Zwei Stellen sind besonders interessant, hier die erste:
„Erreichen die Sanktionen denn wenigstens ihr Ziel, Menschen in Arbeit zu bringen?
Ja, das belegen auch die empirischen Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Aber das Gesetz sieht auch als Ziel vor, dass „die Erwerbsfähigkeit einer leistungsberechtigten Person erhalten, verbessert oder wieder hergestellt wird“. Das impliziert, dass wenn eine zugemutete Arbeit aus subjektiver Sicht die eigene Erwerbsfähigkeit mindern würde, eine Sanktion ihre rechtliche Grundlage verlöre. Sie würde dann zur Nötigung wegen des Entzugs des sozio-kulturellen Existenzminimums. Noch schützt Artikel 12 des Grundgesetzes Bürger vor Arbeitszwang und Zwangsarbeit.“
Schupp bejaht hier zwar, dass Sanktionen ihr Ziel erreichen, schränkt den „Erfolg“ sogleich aber wieder ein und vergleicht die gegenwärtige sozialpolitische Lage gar mit Arbeitszwang, vor dem die Bürger „noch“ geschützt seien durch das Grundgesetz. Schupp sieht also durchaus die Gefahr, dass das Sanktionssystem noch weiter verschärft werden könnte – eine weitgehende Aussage, die deutliche Kritik an der gegenwärtigen Lage übt. Im Grunde weist er damit darauf hin, dass es im Grundgesetz keine Erwerbsobliegenheit gibt, somit eine um das Erwerbsgebot zentrierte Sozialpolitik gar nicht von ihm
Hier nun die zweite Passage:
„In einem Kommentar haben Sie die Idee eine deutschen Grundeinkommens-Experiments ins Spiel gebracht. Wie würde das aussehen? Was versprechen Sie sich davon?
Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht die Sanktionen als rechtmäßig anerkennt, könnte der Gesetzgeber Alternativen erproben. Etwa, ob nachhaltige Integrationserfolge nicht größer sind, wenn Langzeitarbeitslose eine Grundsicherung bekämen, die nicht mit Sanktionen verknüpft ist. Erfolg kann hier etwa bedeuten, dass die Menschen längerfristig und in bessere Jobs vermittelt werden als von einer Kurzzeitmaßnahme in die nächste, dass sie gesünder sind, sich wohler fühlen oder weniger oft obdachlos werden. Dafür bräuchte es ein wissenschaftlich begleitetes Design einer Langzeituntersuchung von drei bis fünf Jahren. Danach könnte man wirklich evidenzbasiert die vermeintliche umfassende Wirksamkeit der Sanktionspraxis anhand einer ausgewogenen Kosten-Nutzen-Analyse empirisch bewerten. Der Wissenschaftliche Dienst hat bereits in einem Rechtsgutachten auch festgestellt, dass solche Experimente in Deutschland rechtlich möglich wären.“
Ganz deutlich wird, dass ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts noch lange keine politische Legitimation für eine bestimmte Politik bietet, hier, wenn Sanktionen als verfassungskonform erklärt würden. Es ist eine eminent politische Frage, eine Frage der Gestaltung des Zusammenlebens, wie das Existenzminimum gesichert werden soll. Schupp stellt die berechtigte Frage, ob denn dem häufig gefeierten Erfolg (höchster Beschäftigungsstand seit langem) nicht andere Kritierien an die Seite gestellt werden müssen. Die Beurteilung hängt von der Bestimmung des Ziels ab. Was Schupp hier nicht erwähnt, obwohl für das Wirtschaftsgeschehen entscheidend, ist, dass der Beschäftigenstand kein Selbstzweck ist, zumal das Arbeitsvolumen pro Erwerbstätigen ja gar nicht gestiegen, sondern gesunken ist.
Deutlich wird jedoch, dass Schupp durch das Hinzuziehen anderer Kriterien einen anderen Blick auf die Entwicklung erhält. Doch in dieser Passage hat er dann seine zuvor eingeführte Bemerkung über Arbeitszwang offenbar nicht mehr präsent. Denn Sanktionen, ganz gleich, was eine Langzeituntersuchung zeigen könnte, anerkennen nicht die Autonomie, die für das Grundgesetz gerade wesentlich ist. Eine Kosten-Nutzen-Analyse von Sanktionen müsste das immer einbeziehen und kann gar nicht zu einem positiven Ergebnis kommen, wenn gegen die Autonomie verstoßen wird.
Sascha Liebermann