Ein Gespräch mit dem Münchner Psychoanalytiker Michael Ermann gibt Einblick darein, welche Folgen die Erfahrungen von Kindern, die den Krieg erlebt haben, für ihre Leben und das ihrer Enkel haben (zur Vertiefung hier und hier). Für die BGE-Diskussion sind die Forschungsbefunde insofern interessant, weil die Generation der Kriegskinder und ihrer Enkel diejenige ist, die die Politik der vergangenen Jahrzehnte geprägt hat, in Deutschland anders als anderen Ländern. Zu den Kriegserfahrungen hinzu kommt noch die politische Verantwortung der Nachfahren für den Krieg und die Konzentrationslager. In folgender Passage wird das besonders deutlich:
„Ermann: Männer versuchen meistens, ihre Probleme über Pflichtbewusstsein und Leistung zu bewältigen, Frauen hingegen werden oft altruistisch und engagieren sich sozial. Wir führen das darauf zurück, dass die Mütter im Krieg ihre Söhne als Ersatz für das Familienoberhaupt betrachtet haben; die Mädchen hingegen waren die Vertraute, die Freundin, mit der sie den Kummer geteilt haben. Kurz: Die Jungs mussten handeln, die Mädchen zuhören.
SPIEGEL: Was ist daran so schlimm? Stärken solche Erfahrungen nicht die Persönlichkeit?
Ermann: Die Kriegskinder sind sehr früh in die Rolle eines Erwachsenen gerutscht. Sie mussten die Last der Mütter mittragen. Das hat bei vielen dazu geführt, dass für den eigenen Kummer kein Raum blieb. Heute, als Erwachsene, haben diese Menschen Schwierigkeiten, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen, das eigene Leid überhaupt zu erkennen. Ein großer Teil unserer Interviewpartner betont immer wieder: Mir geht es doch nicht schlecht, anderen geht es viel schlechter. Deshalb hat diese Generation ihr Leid auch nie öffentlich gemacht, hat sich nie mit ihren Problemen gemeldet.“
Diese Zusammenhang hatte ich indirekt einmal in einem Gespräch mit Enno Schmidt gestreift, als es darum ging zu verstehen, woher die Haltung rührt, das bloße Festhalten eines Ist-Zustandes über die Frage zu stellen, wie es zu diesem Zustand kommen konnte. Ein Phänomen, das in der BGE-Diskussion weit verbreitet ist, siehe auch hier.
Die Kriegskindererfahrungen erklären alleine noch nicht, weshalb diese Haltung so verbreitet ist, sie passt aber zugleich zu einem mangelnden Selbstbewusstsein und auch Selbstverständnis als politische Vergemeinschaftung von Bürgern, die wie selbstverständnlich im Zentrum des Sozialstaats stehen sollten und nicht die Erwerbstätigen.
Sascha Liebermann