Erwerbskonten statt Bedingungsloses Grundeinkommen? Marcel Fratzscher sieht das so…

…in einem jüngeren Beitrag auf Zeit Online vom 9. Juni (ganz ähnlich bezogen auf den „Lebenschancenkredit“ am 23. Juni). Was führt ihn zu dieser Schlussfolgerung?

Er hebt so an:

„Auf lange Sicht kann in einer modernen Sozialen Marktwirtschaft jedoch keiner der beiden Ansätze [weder „Wohltaten“ in der Steuer- und Rentenpolitik noch ein BGE, SL] funktionieren. Eine neue Sozialpolitik sollte sich an die Bedürfnisse des Einzelnen anpassen, etwa durch flexible Ansprüche auf soziale Leistungen wie Bildung, Qualifikation, Familienleistungen oder Rente. Individuelle Erwerbskonten wären dafür ein gutes Instrument. Eine solche Sozialpolitik würde nicht nur individuelle Bedürfnisse besser befriedigen, sondern den Einzelnen auch mehr Freiheit und Autonomie verschaffen.“

Damit ist schon klargestellt, dass er vom BGE nichts hält, obwohl er hier schon etwas sagt, das keine Form der Einkommenssicherung so gut leisten würde wie gerade ein BGE. Was wäre denn die legitimatorische Basis, auf der diese „Bedürfnisse“ stünden, von denen Fratzscher spricht? Er spricht es nicht aus, aber Bedürftigkeit in einem Gefüge, das in Erwerbsarbeit das höchste Gut sieht, wäre ausschlaggebend. Also: Bedürftigkeitsprüfung mit dem Ziel, die Bezieher wieder erwerbsfähig zu machen. Das ist das heutige System sozialer Sicherung, das gegen ein BGE gar nicht ausgespielt werden muss, wie es hier aber geschieht. Bedürftigkeitsprüfung auf Basis eines BGE wäre eben etwas vollständig anderes als Bedürftigkeitsprüfung auf Basis des Erwerbsgebots – der Unterschied wäre normativer Art und damit entscheidend.

Dann schreibt er:

„Qualifikation ist in einer globalen und sich stetig wandelnden Welt nicht mit dem ersten Berufsabschluss abgeschlossen: Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, weiter zu lernen. Sie wollen flexibler und freier als bisher den Übergang in den Ruhestand wählen, individuell über die für sie richtige Balance zwischen Familie und Beruf entscheiden können – und frei wählen, in welcher Art von Familie sie leben wollen.

Die Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens fordern zu Recht die Stärkung der Autonomie des Individuums, damit Menschen ein selbstbestimmtes Leben gestalten können und neue Wege finden, sich in Gesellschaft und Wirtschaft einzubringen.“

Ja, und was spricht nun gegen das BGE? Eine Studie der OECD:

„Eine neue Studie der OECD kommt zu einem ernüchternden Ergebnis (siehe Grafik): Falls die Staaten ihr komplettes bisheriges Sozialbudget mit Ausnahme der Renten – nicht mehr, aber auch nicht weniger – für ein bedingungsloses Grundeinkommen aufwendeten, würde die soziale Absicherung nicht gestärkt, sondern im Gegenteil massiv geschwächt. Das bedingungslose Grundeinkommen verbesserte weder die soziale Grundsicherung, noch reduzierte es die soziale Ungleichheit. Es böte keine Absicherung gegen technologischen Wandel und Globalisierung und erhöhte auch nicht die Freiheit und Autonomie des Einzelnen.

Im Durchschnitt läge dieses bedingungslose Grundeinkommen knapp 50 Prozent unter der Armutsgrenze. Dabei gibt es zwar große Unterschiede zwischen OECD-Ländern. Doch selbst in Deutschland müssten die Empfänger und Empfängerinnen des Grundeinkommens, falls sie keine anderen Einkünfte erzielen, mit weniger als der Hälfte der Grundsicherung gegen Armut auskommen.“

Hier muss genauer betrachtet werden, wie die Berechnungen in der Studie durchgeführt wurden, zu diesem wichtigen Punkt siehe hier und hier.

Fratzscher fährt fort:

„Das bedingungslose Grundeinkommen würde auch sein zweites Ziel verfehlen, die Verringerung der sozialen Ungleichheit. Es würde sie sogar erhöhen, zumindest in den vier von der OECD im Detail untersuchten Industrieländern. Das ist nicht überraschend, denn die sozialen Sicherungssysteme versuchen ja gerade, den Menschen gezielt zu helfen, die auf Hilfe angewiesen sind. Ein bedingungsloses Grundeinkommen, das – per Definition – Gelder nach dem Gießkannenprinzip verteilt, unterscheidet bewusst nicht nach Bedürftigkeit. Genau aus diesem Grund wollen einige Verfechter das bedingungslose Grundeinkommen zusätzlich zu den sozialen Leistungen einführen. Dies würde aber die Kosten in unermessliche Höhen steigen lassen und ein bedingtes Grundeinkommen gänzlich unmöglich machen.“

Letzteres ist nur eine Behauptung, weshalb sollte das so sein? Warum betrachtet Fratzscher nicht die Einnahmeseite in einem BGE-Gefüge? Es kann nicht übergangen werden, welche positive Effekte ein BGE haben kann, statt nur die – je nach Blickwinkel – erwarteten negativen zu betrachten.

Was kommt noch?

„Auch würde ein bedingungsloses Grundeinkommen die Menschen vermutlich nicht, wie erhofft, gegen den Wandel der Arbeitswelt absichern und sie autonomer machen. Selbst wenn es finanzierbar wäre: Statt den Menschen mehr Teilhabe zu ermöglichen, würde es sie eher isolieren und ruhigstellen. Chancengleichheit entstünde daraus nicht. Wem würde das bedingungslose Grundeinkommen helfen?“

Ganz wie vor kurzem Henning Meyer (siehe auch hier) wird auch hier deutlich, wie über die Fähigkeiten des Einzelnen gedacht wird. Weshalb würde ein BGE „eher isolieren und ruhigstellen“? Wer stellt wen womit ruhig (siehe auch hier)? Hier wird so getan, als könnten die Bürger zu etwas verleitet werden, was sie überhaupt nicht wollen. Diese Vorstellung hat zwei Seiten, eine Machtüberschätzung auf der einen und eine Autonomieunterschätzung auf der anderen. Wer der Auffassung ist, Bürger könnten ruhiggestellt werden, muss auch davon überzeugt sein, sie „aktivieren“ zu können bzw. zu müssen. Da wird deutlich, wes Geistes Kind diese Gedanken sind. Wer die Wirkungszusammenhänge der heutigen Sicherungssysteme ebenso ernst nimmt wie die Autonomie der Bürger, der müsste zu einem ganz anderen Schluss kommen. In der Tat kann ein Sicherungssystem, das dem Einzelnen zuerst einmal misstraut und ihn auf eine bestimmte Einkommenserzielungsweise festlegen will, als autonomiehemmend bezeichnet werden. Gehemmt wird durch es etwas, das schon vorhanden ist. So betrachet kann aber weder von Ruhigstellung noch von Aktivierung gesprochen werden, es muss von Autonomieförderung oder -hemmung die Rede sein. Damit jedoch verändert sich der Sachverhalt, auf den geblickt wird, folglich müssen andere Schlüsse gezogen werden.

Nun gibt es in der Tat Menschen, deren Bildungsprozesse so unglücklich verlaufen sind, dass ihre Autonomie sich nicht in Gänze hat entfalten können, wer würde das bestreiten. Aber auch aus einem solchen Befund folgt keineswegs, dass andere „aktiviert“ oder an die Hand genommen werden müssen. Sie brauchen Unterstützung, die autonomiefördernd ist, aber nicht durch Druck (Sanktionen), Lenkung oder paternalistische Fürsorge, sondern durch wirkliche Hilfe, die die Autonomie in ihrer konkreten Form respektiert. Das ist etwas ganz anderes als die fürsorgliche Entmündigung, die Fratzscher erkennen lässt. Nur wer den Bürgern bestimmte Ziele auferlegen will, muss sich davor sorgen, dass sie diese nicht verfolgen wollen. Diese Haltung steht einem demokratischen Gemeinwesen nicht an, sie ist undemokratisch. Nun kann sich in der Tat ein Gemeinwesen per demokratischer Verfahren dazu entschließen, genau diese Lenkung zu praktizieren, die Entscheidung wäre dann demokratisch zustandegekommen, schränkte aber die Autonomie- d.h. auch Mündigkeitsvoraussetzung der Demokratie selbst ein.

Fratzscher nennt zur Erläuterung ein Beispiel:

„Nehmen wir als Beispiel einen arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger mit erheblichen Schwierigkeiten, sich gebührend zu qualifizieren und einen geeigneten Job zu finden. Diesen Menschen würde das bedingungslose Grundeinkommen eben nicht helfen, einen Arbeitsplatz zu finden und ihn dauerhaft auszufüllen. Dieser Mensch braucht vielmehr eine Arbeits- und Qualifikationsagentur, die ihn gezielt unterstützt und fördert, durch Beratung, Training und Vermittlung. Ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt einem Hartz-IV-Empfänger nicht mehr Autonomie, sondern würde ihn eher in der Arbeitslosigkeit verharren lassen, auch dann, wenn er eigentlich gerne arbeiten möchte.“

Zielvorgabe: Arbeitsmarkt – das ist die Lenkung, von der ich oben sprach. Wer das will, kann natürlich dem Hartz-IV-Bezieher es nicht selbst überlassen, was er aus seinem Leben macht. Wer befindet hier nun darüber, dass es für diese Person auch das richtige, angemessene Ziel ist? Marcel Fratzscher? Und wieder verschweigt er – vielleicht bemerkt er es auch nicht -, was Unterstützungsleistungen auf der Basis des Erwerbsgebots mit sich bringen: Stigmatisierung. Es wird nicht einfach so „gezielt unterstützt und gefördert“, diese Unterstützung ist mit Drohungen versehen, die jederzeit per Sanktionsinstrumenten, wirklich werden können. Weshalb sollte die entsprechende Person denn nicht in der „Arbeitslosigkeit“ verharren können, wenn das genau das richtige für sie wäre? Sie hätte womöglich gute Gründe dafür. Aber die sollen nicht gelten gelassen werden.

Es folgt ein weiteres Beispiel:

„Nehmen wir als zweites Beispiel eine alleinerziehende Mutter – knapp jedes vierte alleinerziehende Elternteil in Deutschland ist vom Armutsrisiko betroffen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde dieser Mutter sicherlich finanziell helfen, nicht jedoch die wirklichen Ursachen des Armutsrisikos beseitigen, nämlich eine fehlende Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur, eine eingeschränkte Flexibilität des Arbeitsmarkts und eine steuerliche und finanzielle Diskriminierung gegenüber Familien mit zwei Elternteilen, beispielsweise durch das Ehegattensplitting. Ähnliches gilt für andere gefährdete Gruppen, wie Geringqualifizierte ohne Schul- oder Berufsabschluss und Migranten, die Sprachförderung, soziale Kontakte und Integration benötigen.“

All das spricht nicht gegen das BGE, sondern gegen bestimmte Regulierungen. Festzuhalten bleibt hier wie schon zuvor: Fratzscher will nicht die Gestaltungsmöglichkeiten des Einzelnen erweitern, wie es ein BGE tät. Die hier erwähnte alleinerziehende Mutter hätte erst mit einem BGE die legitime Option, auch zuhausebleiben zu können, weil genau das ermöglicht wäre und sie nicht mehr dem Erwerbsgebot folgen müsste, um einen legitimen Status zu erreichen. Kein Wort davon bei Fratzscher, stattdessen die übliche Rhetorik zum Ausbau von Betreuungsangeboten. Zur einseitigen Darstellung des Ehegattensplittings, siehe hier.

„Kurzum, das Hauptproblem für viele Menschen in der heutigen Arbeitswelt ist nicht ein fehlendes Grundeinkommen, sondern eine unzureichende staatliche Infrastruktur und staatliche Hürden, die vor allem sozial schwache Gruppen diskriminieren.“

Ja, eben, durch das Erwerbsgebot und die auf seinem Fundament errichten Systeme sozialer Sicherung – das will Fratzscher aber nicht sehen.

Als Alternative führt er dann das Erwerbskonto an, es sei viel sinnvoller als ein BGE:

„Ein Erwerbskonto würde, anders als das bedingungslose Grundeinkommen, staatliche Leistungen per se nicht ersetzen, sondern lediglich den Menschen mehr Autonomie und Mitbestimmung darüber geben, welche Leistungen sie zu welchem Zeitpunkt in Anspruch nehmen wollen. So würde beispielsweise ein Anspruch auf Qualifikation nicht erst dann entstehen, wenn jemand arbeitslos geworden ist oder andere staatliche Kriterien erfüllt. Stattdessen könnte jede Person selbst freier wählen, wann sie oder er eine Fortbildung in Anspruch nehmen möchte. Die Idee des Kontos ist, dass diese Ansprüche über die gesamte Lebenszeit zwar begrenzt sind, jeder Mensch jedoch individuell entscheiden kann, wann diese Ansprüche genutzt werden und auch selbst weitere Ansprüche erwerben kann.“

Nomen est omen, ein Erwerbskonto, das sich am Erwerbsgebot orientiert und ihm dient, nicht aber der Selbstbestimmung der Bürger.

Zum französischen Modell, das kürzlich eingeführt wurde, schreibt er:

„Auch wenn das französische Modell noch neu ist und seine Erfolgsaussichten unklar, könnte es der deutschen Politik neue Impulse geben. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) diskutiert in seinem Weißbuch Arbeiten 4.0 bereits über Erwerbskonten. Es gibt viele Möglichkeiten, sie auch über den Bereich der Qualifizierung hinaus zu nutzen. So könnten individuelle Kontenmodelle auch auf die Familien- und Pflegezeit angewandt werden – Eltern könnten flexiblere Auszeiten für die Erziehung ihrer Kinder oder die Pflege von Familienmitgliedern in Anspruch nehmen –, sie könnten beim Schritt in die Selbstständigkeit, einer beruflichen Umorientierung oder den flexibleren Übergang in den Ruhestand helfen.“

Durchaus könnte ein solches Modell Gestaltungsmöglichkeiten im bestehenden Erwerbsnormgefüge erweitern, das ist unbestritten, die Erwerbsnorm selbst bliebe jedoch bestehen und die Sanktionsinstrumente im Leistungsbezug von Arbeitslosengeld müssten ebenso bestehen bleiben, denn ein erwerbszentriertes Sicherungssystem kann nicht ohne Sanktionen auskommen. Ganz anders mit einem BGE, das sich sogar auf die weiterhin angebotenen bedarfsgeprüften Leistungen auswirken würde (Fratzscher behauptet einfach, solche Leistungen sollten ersatzlos gestrichen werden, das stimmt so nicht).

Die Diskussion um das BGE ist vor allem eine Diskussion darum, ob das Erwerbsgebot mit all seinen Folgen bestehen bleiben soll oder nicht – es geht also um Grundsätze. Denn diese haben Folgen für ein Gemeinwesen, das keine Erwerbstätigen- sondern eine Bürgergemeinschaft ist. Das Erwerbsgebot wirkt in alle Lebensbereiche hinein, ist autonomiehemmend und fördert nicht in dem Maße Pluralität, wie ein BGE es kann. Die Frage ist also eminent politisch: Was wollen wir?

Sascha Liebermann