„Zweifel an diesem idealisierten Menschenbild“ – oder der Preis der Demokratie

Baukje Dobberstein hat jüngst einen Beitrag in ihrem Blog veröffentlicht, der zum Ausgangspunkt die Frage aufwirft, ob nicht in der Grundeinkommensdiskussion, hier auch in Bezugnahme auf Äußerungen von mir, ein „idealisiertes Menschenbild“ entworfen werde. Im Grunde teilt sie die Idealisierung, doch gleichermaßen hat sie Zweifel daran. Sie schreibt zu Beginn:

„Die Idee des Grundeinkommens geht vom mündigen Bürger aus. Wer das nicht teilt, müsste konsequenterweise auch die Demokratie in Frage stellen. Nicht nur Sascha Liebermann macht solche Aussagen. Und es ist ja auch eine Menge Wahres daran. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen wäre wie Aufklärung 2.0, ein emanzipatorischer Schritt, ein Stück Befreiung aus der Knechtschaft der Arbeitgeber.

Doch ich habe auch immer wieder Zweifel an diesem idealisierten Menschenbild. Es kommt mir naiv und verklärt vor angesichts der realen Geschehnisse in unserem Land und auf der ganzen Welt.“

Idealisiert, „naiv und verklärt“? Wer meine Ausführungen zur Demokratie kennt, weiß, dass ich nicht „das Gute“ im Menschen feiere oder für ein „positives Menschenbild“ plädiere. Meine Schlussfolgerungen habe ich ganz anders gewonnen. Dazu gehört auf der einen Seite ein Blick auf unser politisches Ordnungsgefüge, bei dem es sich gar nicht um eine Theorie oder eine philosophische Idee, sondern um reale Lebensverhältnisse handelt. Art. 20 (2) GG geht nicht von einem idealisierten Staatsbürger aus, der erst menschheitsgeschichtlich zu erreichen wäre, er wird schlicht als Tatsache vorausgesetzt, auf den sich die Volkssouveränität gründet. Nun kann man dem GG natürlich vorwerfen, dass genau darin die Idealisierung bestehe und die Wirklichkeit gar nicht so sei. Aber die Idealisierung ist ja gerade die Wirklichkeit in diesem Falle, wirkmächtig, zum Anfassen, auf die wir uns immer beziehen können und müssen, wenn wir in unserer Demokratie etwas in ihrem Geiste erreichen wollen. Das heißt nun nicht „Friede, Freude, Eierkuchen“, alles sei gut, nein, Demokratie ist ein stetiges Ringen miteinander, ein Ringen um Ausgleich, es gibt keine Ur-Harmonie die wiedergewonnen oder ein für allemal erreicht werden könnte.

Steckt hinter den Zweifeln vielleicht doch die Hoffnung, es könnte diese Ur-Harmonie geben, den Zustand, in dem nichts mehr schief laufen kann? Es gibt keine Vollkommenheit und die Demokratie ist in vielerlei Hinsicht nichts anderes als ein tägliches Plebiszit (Ernest Renan). Naiv? Wenn man so will, ist die Demokratie naiv, wie sie eine Idealisierung darstellt, vielleicht ist sie aber auch nur die Herrschaftsform, die sich genau zu dieser Unvollkommenheit bekennt im Vertrauen darauf, dass sich ein Ausgleich finden lässt. Der erreichte Ausgleich muss einem nicht gefallen, das gehört dazu, dann muss von Neuem gerungen werden. Hat das eine Grenze? Ja, die harte, nicht überwindbare Grenze des Machbaren sind die Bürger, die etwas nicht haben wollen und die Verantwortung für die Folgen zu tragen haben. Das ist, was Mündigkeit auch meint.

Dann heißt es im Beitrag weiter:

„Ist die Mehrzahl der Bürger wirklich in der Lage, rationale, menschliche und nachhaltige Entscheidungen zu treffen? So viel Egoismus, Dummheit und Missachtung der Mitmenschen kann doch nicht ignoriert werden. Und ja, wenn man den Gedanken weiter verfolgt, dann stellt man die Demokratie tatsächlich auch mit in Frage. Und dann? Wer oder was sollte denn dann die Entscheidungen treffen? Kluge und gute Diktatoren hat es in der Menschheitsgeschichte nicht allzu oft gegeben. Das ist also auch keine Lösung.“

Hier würde man gerne wissen, was genau die Autorin beschäftigt hat, denn es ist ein Leichtes, andere der Dummheit, des Egoismus usw. zu schelten, ohne genau zu sagen, worum es geht und ob diese Vorwürfe denn treffen, worum es geht. Kurzsichtigkeit muss mit Egoismus nichts zu tun haben, Wertvorstellungen sind über eine lange Zeit gebildet worden, noch immer war es der Wechsel zwischen den Generationen, der auch Veränderungsmöglichkeiten barg. Als sei es so einfach zu bestimmen, was denn rationale, menschliche und nachhaltige Entscheidungen sind, nach welchem Maßstab?

Dann folgt eine Schilderung aus der therapeutischen Praxis:

„Nachdem mich nachts solch pessimistische Gedanken umgetrieben haben, holt mich tagsüber die Realität wieder ein. Ein Patient berichtet davon, wie er im Jobcenter vom Sicherheitsdienst rausgeschmissen wurde. Obwohl er alles richtig gemacht hatte und seine Beschwerde gegen die Leistungskürzung rechtens war und sachlich vorgetragen wurde.“

Bei allem Leiden, das hier erkennbar ist, das Gefühl des Verletztseins des Patienten, vielleicht der Erniedrigung, der womöglich ungerecht behandelt wurde, so war doch die Autorin im Jobcenter offenbar nicht dabei. Ist es nicht so, dass die Jobcenter etwas praktizieren, wozu der Gesetzgeber sie beauftragt hat? Und ist es nicht so, dass dieser Gesetzgeber noch immer die Mehrheit der Bürger hinter sich hat? Ist das egoistisch? Zugleich gibt es die Seite derer, die auf das Jobcenter treffen. So beklagenswert das ist, so kritikwürdig, so sehr sind sie gegenwärtig noch gewollt. Beklagenswert ist, wie das Beantragungssystem unseres Sozialstaats gerade diejenigen am härtesten trifft, die ihn am meisten brauchen, die ihre Interessen am wenigsten wahrnehmen können und ohne seine Leistungen besonders bedroht sind. Aber, spricht das gegen Mündigkeit?

Es ist doch aber deswegen nicht naiv oder idealisierend, auf das Fundament der politischen Ordnung zu verweisen, es macht deutlich, dass wir darüber steiten müssen, was das dort Niedergelegte praktisch bedeutet und ob wir als Bürger das noch so haben wollen – auch das setzt auf Mündigkeit.

Sascha Liebermann