Werner Plumpe, Prof. em., Historiker, hat in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Beitrag mit dem Titel „Wie wir fleißig wurden“ veröffentlicht, der sich mit dem Wandel der „Einstellung zur Arbeit“ befasst und in einem historischen Überblick von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis in die Gegenwart verfolgt. Darin geht es um das Verständnis von Leistung, das vorherrschte und noch die Nachkriegszeit prägte, welche Bedeutung die Erfahrung von Knappheit und Mangel für den materiellen Wohlstandszuwachs hatte. Am Ende geht es darum, ob der Sozialstaat der Gegenwart diesbezüglich wohlstandsförderlich sei oder nicht. Im ersten Teil des Beitrags schreibt Plumpe:
„So uneinheitlich das Bild im Einzelnen ist, der Stellenwert von Arbeit scheint dennoch zurückgegangen zu sein. Um zu begreifen, welcher Wandel sich gegenwärtig vollzieht, welche Bedeutung Meinungsumfragen haben, nach denen die Bevölkerung in der Pflichterfüllung nicht mehr ihre eigentliche Herausforderung sieht, hilft es, nach den historischen Wurzeln des lange Zeit gültigen Pflichtdenkens zu fragen.“
Dass der Stellenwert von Erwerbsarbeit, nur von der ist in Plumpes Beitrag die Rede, sich verändert hat, vor allem bezüglich seines Inhaltes, ist unstrittig, seine normative Bedeutung ist hingegen stärker als früher, man muss sich nur die Erwerbsquote anschauen und die Betreuungsquote in Kitas. Erwerbstätigkeit ist nicht mehr, wie Plumpe für frühere Zeiten behauptet, der Knappheit und dem Mangel geschuldet. Meinungsumfragen sind für eine solche Einschätzung eine schlechte Quelle, weil sie oberflächliche Selbsteinschätzungen wiedergeben. Plumpe neigt teils zu einer etwas mechanischen Deutung des Wandels im Arbeitsverhalten, obwohl er zugleich auf andere Aspekte diesbezüglich hinweist, so z. B. die anfangs religiös aufgeladene Bedeutung von Arbeit, deren normative Geltung sich heute von diesen Wurzeln schon lange gelöst hat:
„Doch Forschungen zur Sozialgeschichte des Arbeitsverhaltens haben ganz eindeutig gezeigt, dass es vor allem die mit der modernen Erwerbsarbeit verbundene Zunahme von Konsumchancen etwa bei Textilien oder bei Genussmitteln wie Tee und Zucker war, die das Arbeitsverhalten vieler Menschen zunehmend änderte. “
Womöglich stellt sich das in den Studien, auf die er hier verweist, differenzierter dar, hier hingegen übersieht er, dass „Konsum“ nicht unabhängig von der gesellschaftlichen Bewertung von Konsum als Ausweis erfolgreicher Erwerbsteilnahme zu betrachten ist. Sich etwas leisten können ist damit Ausdruck einer Bindung an das normativ Wertgeschätzte.
Folgende Deutung überrascht:
„Zusammen mit dem im Zuge der Globalisierung beschleunigten Strukturwandel führte diese Konstellation seit den späten Siebzigerjahren indes sukzessive zu einer starken Belastung der Sozialsysteme, da die aus dem Erwerbsleben verdrängten Menschen immer öfter dauerhaft im Sozialstaat „geparkt“ wurden, ohne dass es hinreichend Anreize, ja Zwänge gab, in die Arbeitswelt zurückzukehren.“
Wie kommt Plumpe zu dieser Deutung? Schon in der in der 1960er Jahren eingeführten Sozialhilfe waren Sanktionen vorgesehen, wenn Arbeitsaufnahme verweigert wurde (siehe hier das Gesetz, hier unseren früheren Beitrag dazu). Wenn Plumpe, wenn auch in Anführungszeichen, davon spricht, „Menschen“ seien „dauerhaft“ „geparkt“ worden, widerspricht das Studien aus der dynamischen Armutsforschung, die zeigen konnten, dass das gerade nicht der Fall war. Im Sozialhilfebezug war eine hohe Dynamik, viele Bezieher verließen den Leistungsbezug im ersten Jahr, weitere in den Folgejahren. Es kann nicht die Rede davon sein, dass dort „immer öfter jemand ‚geparkt‘ wurde“ (hier Literaturverweise dazu). Leistungsbezug über fünf Jahre hinaus betrifft eine deutliche Minderheit in entsprechenden Problemlagen. Dementsprechend ist auch die nachstehende Passage nicht haltbar:
„Was von der Regierung Kohl noch toleriert wurde, war für die Regierung Schröder/Fischer der Anlass, die Hartz-Reformen auf den Weg zu bringen, die alles in allem wirksam waren, gerade weil sie den sozialen Druck erhöhten. Dass die Ampelregierung mit dem Bürgergeld die Hartz-Reformen faktisch zurücknahm und damit die Möglichkeit deutlich ausweitete, auch ohne reguläres Erwerbseinkommen zu existieren, ist denn auch der Kern der gegenwärtigen Debatte um Fleiß, Leistung und Hilfe. Das allein hat diese Debatte aber nicht verursacht. Zu einer weiteren Verschiebung, die zunächst schleichend einsetzte, kam es seit der Jahrtausendwende, als der materielle Wohlstand als Faktor der Umweltzerstörung in die Kritik geriet. Seither gilt ein fleißiges Arbeitsverhalten, das allein auf die Vermehrung des materiellen Wohlstandes setzt, als schädlich, und zwar sowohl für die natürliche Umwelt wie für das seelische Gleichgewicht des Menschen. Die von hier ausgehenden Strömungen einer Begrenzung der Arbeit, eines Verzichtes auf materielle Zuwächse, zuletzt eines umfassenden ökonomischen Schrumpfens haben vor allen Dingen bei jüngeren Menschen gehobener Bildungsschichten Attraktivität. Überspitzt gesagt: Der erhobene Zeigefinger auf andere und zugleich das Verzichtenkönnen auf eigene Arbeit machen die alte aristotelische Symbiose aus Hedonismus und Moralismus wieder aktuell.“
Was meint er damit, die Regierung Kohl habe das noch toleriert? Es war stetes Wahlkampfthema seit den achtziger Jahren, die stigmatisierenden Reden über Erwerbslose waren überall zu vernehmen und Sanktionen gab es ebenfalls. Die unter der Regierung Schröder eingeführte Gesetzgebung führte zwar zu einer Verschärfung der Sanktionen, die Behauptung vom angeblich lange andauernden Leistungsbezug hingegen war eine Mär (siehe oben). Der Vermittlungsvorrang, der dazu führte, dass beinahe jedes Arbeitsangebot angenommen werden musste, führte zum größten Niedriglohnsektor in Europa, der erklärtermaßen das Ziel der Regierung war. Plumpe folgt hier der Maxime, Not mache erfinderisch, schärfere Sanktionen seien leistungsfördernd. Er übersieht hierbei jedoch die Entwertung von Leistung, die mit dieser Sozialpolitik einherging, weil sie antiinnovativ war, im Zweifelsfall gar den Verzicht auf Automatisierung befürwortete. Wenn Leistung nicht mehr daran gemessen wird, was am Ende dabei herauskommt, sondern zum Kriterium wird, wieviele Personen den Leistungsbezug verlassen haben, hat das mit Leistungsethos nichts mehr zu tun, sehr viel aber damit, Beschäftigung zu schaffen.
Abschließend schreibt Plumpe:
„Doch hat der Sozialstaat mit seinen Transferleistungen auch in anderen Teilen der Gesellschaft den Wert der Erwerbsarbeit infrage gestellt. Diese Entwicklungen werden sich mit Appellen, deren Gültigkeit in historischer Perspektive immer an den Zwängen der Knappheitsbewältigung hing, kaum korrigieren lassen. Und eine Wiederkehr existenzieller Knappheiten ist kaum erstrebenswert. Wie aber ansonsten eine ‚Wiederverfleißigung‘ der Menschen erfolgen könnte, ist ein offenes Problem.“
Worauf rekurriert Plumpe hier? Soll die von der CDU angezettelte Bürgergeldkampagne als Beleg gelten, also die nicht auffindbaren vielen „Totalverweigerer“, von denen immerzu die Rede war? Offenbar sieht er nicht, dass es gerade diese Sozialpolitik war und ist, die Leistung entwertet und abgesehen davon, andere Leistungsformen, von denen ein Gemeinwesen ebenso lebt, degradiert. Mehr denn je erscheint die Familienpolitik heute als Anhängsel der Arbeitsmarktpolitik und entwertet damit eine weitere wichtige Leistung für das Zusammenleben. Das „offene Problem“, das er hierin zu erkennen scheint, wäre in einer anderen Richtung zu suchen, dass die Entwertung von Leistung in der jungen Generation womöglich Spuren hinterlassen hat (siehe dazu hier).
Sascha Liebermann
