Liebe #taz, wenn ein Wissenschaftler um Vorlage eines Manuskripts bittet, ist das kein „Verriss“ oder „Disput“. Es gibt keinen Vorwurf an die Kollegen, nur eine Nachfrage. Diskurs ermöglicht wissenschaftliche Meinungsbildung. Auch wenn sich manche einen Gelehrtenstreit wünschen. https://t.co/85OiW0neWb
— Christian Drosten (@c_drosten) April 10, 2020
Das Transkript des Pressegesprächs im science media center germany, auf das sich die taz, aber auch andere Medien wie focus, beziehen, finden Sie hier (hier auch eine Befragung Drostens im ZDF am selben Tag zur Heinsberg-Studie; in einem sehr ausführlichen Interview auf Zeit Online hat er sich zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik geäußert). Sowohl das Transkript wie auch das Gespräch im ZDF bezeugen vielmehr Banalitäten, dass nämlich ein Wissenschaftler mit einer Studie zurückhaltend umgeht, solange er sie nicht kennt, dann eben keine Schlüsse aus ihr zieht.
Drosten hätte vielleicht noch zurückhaltender sein können, stellt jedoch differenzierte Fragen an die Studie und tut nicht, was Medien kolportieren, und zwar sie kritisieren. Dass Drosten diese Fragen in der Pressekonferenz nicht beantwortet sieht, heißt nicht, dass Streeck sie nicht beantworten kann. Folgerichtig hält er sich mit Einschätzungen zurück. Das sollte jeder Wissenschaftler tun, der zu einer Studie befragt wird, zu der er keine detaillierten Informationen hat, z. B. über Datenerhebung (was wurde erhoben, wie wurde es erhoben, wer wurde untersucht), Datenauswertung (wie wurde vorgegangen) und daraus gezogene Schlüsse. Denn um diese einschätzen zu können, müssen sie ins Verhältnis zu den Daten gesetzt werden.
Eine Anmerkung zur Eigendynamik der Medien sei noch angefügt. Forschung bzw. Forschungsergebnisse über Publikationen hinaus in die Öffentlichkeit zu tragen, indem z. B. Pressekonferenzen gehalten und Interviews gegeben werden, ist durchaus begrüßenswert. Allerdings handelt sich es dabei immer um Untersuchungen, die sich auf den state of the art einer oder mehrerer Disziplinen zu einer ganz bestimmten Fragestellung beziehen. Es ist also ein durchaus anspruchsvolles Unterfangen, solche Untersuchungen einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren, die die Eigenheiten von Forschung in der Regel nicht kennt und den Status von Ergebnissen nicht gut einschätzen kann. Mit entsprechenden Methodendiskussionen ist sie nicht vertraut. Für Missverständnisse sind hier Tür und Tor geöffnet. Die mediale Berichterstattung tendiert hier zu reißerischen Überschriften und knalligen Zuspitzungen, wodurch Ergebnisse weniger differenziert vermittelt werden, als sie womöglich vorgetragen wurden. Hinzukommt, was Drosten auch in Interviews schon beschrieben hat, dass Forschungsergebnisse schnell politisiert werden. Das ist ein Geist, der ernsthafter Forschung diametral entgegengesetzt ist, was nicht selten dazu führt, dass Wissenschaftler, die in der Öffentlichkeit auftreten, darauf nicht vorbereitet sind und der Vereinnahmung nicht entgegenzutreten vermögen.
Das ist auch für die BGE-Diskussion von Bedeutung, denn der Gegenstand ist eine „hot potatoe“, es mangelt oft an nüchterner Betrachtung der Zusammenhänge, was eine differenzierte Argumentation erschwert. Erinnert sei hier nur an die häufige Reaktion (siehe auch hier) von Diskutanten mit überdurchschnittlichem Einkommen, die darauf hinweisen, ein BGE nicht zu „brauchen“. Dass sie es dennoch erhalten würden, bezeuge, wie ungerecht es sei. Im selben Atemzug vergessen diese Diskutanten zu erwähnen, welche Freibeträge sie ganz fraglos in Anspruch nehmen, die sie ebensowenig „brauchen“. Sie vergessen auch, dass sich Freibeträge im Einkommensteuergesetz nicht aus einer Bedarfslage heraus begründen, sondern als Absicherung des Existenzminimums, das jeder Person, in Absehung von ihrer Einkommenslage, zusteht.
Siehe frühere Beiträge zu Wissenschaft und Politik hier und hier.
Sascha Liebermann