Anerkennung oder Hinterfragung des status quo? Anmerkungen zu einer Studie über Armut

Vor kurzem haben wir auf eine Studie hingewiesen, die sich mit Kinderarmut befasste und dafür die Erwerbssituation der Eltern untersuchte. Entscheidend für die Einkommenssituation sei, ob die Mütter erwerbstätig sind oder nicht. Gemeinhin wird daraus der Schluß gezogen, dass die Erwerbsquote von Frauen insbesondere von Müttern erhöht werden müsse, dazu bedürfe es des Ausbaus von Betreuungsangeboten usw. Denn nur so sei Altersarmut bei Frauen vermeidbar. Für die Nachdenkseiten hat Marcus Klöckner die beiden Sozialwissenschaftler Claudia Wenzig und Torsten Lietzmann, die die Studie durchgeführt haben, interviewt. Was haben sie zu den Befunden zu sagen, welche Schlüsse ziehen sie daraus?

„Torsten Lietzmann: In Paarfamilien beispielsweise leben nahezu alle Kinder in einer abgesicherten Lage, wenn die Mutter dauerhaft Vollzeit oder Teilzeit oder geringfügig arbeitet. Wenn sie dauerhaft nicht erwerbstätig ist, ändert sich das Bild. 32 Prozent der Kinder sind dann in einer dauerhaften oder wiederkehrenden Armutslage. […]

Claudia Wenzig: In Ein-Eltern-Familien hängt das Armutsrisiko von Kindern noch stärker an der Erwerbstätigkeit der Mütter. Nur wenn eine alleinerziehende Mutter über einen längeren Zeitraum in Vollzeit erwerbstätig ist, also mehr als 30 Wochenstunden, kann in den meisten Fällen verhindert werden, dass ihre Kinder in einer dauerhaften Armutslage aufwachsen. Ist eine alleinerziehende Mutter nicht erwerbstätig, wachsen ihre Kinder fast immer in einer dauerhaften oder wiederkehrenden Armutslage auf – der Anteil beträgt dann 96 Prozent.“

Diese Befunde sind nicht weiter überraschend (siehe hier). Nun kann der Umstand, dass Einkommenserzielung über Erwerbstätigkeit zu erfolgen hat, einfach hingenommen werden, er gehörte womöglich auch gar nicht zur Forschungsfrage. Es wäre allerdings nicht wagemutig zu differenzieren, dass die Einkommensarmut hier eine ist, die genau aus dem Umstand resultiert, sich für Familie und gegen Erwerbstätigkeit entschieden zu haben bzw. über Erwerbstätigkeit zu geringes Einkommen zu erzielen. Daraus könnte der Schluß gezogen werden, wie wichtig es wäre, eine Einkommenssicherungsleistung zu haben, die Eltern erlaubte, sich für Familie zu entscheiden, ohne sich damit zugleich für Armut entscheiden zu müssen. Was empfehlen die Autoren?

Formulieren Sie auch eine Handlungsempfehlung an die Politik? Oder anders gefragt: Was müsste aus Ihrer Sicht unternommen werden, um insbesondere der Kinderarmut entgegenzuwirken? 
Torsten Lietzmann: Unsere Ergebnisse zeigen ja, dass es ganz entscheidend darauf ankommt, ob die Mütter arbeiten. Daher sind insbesondere Maßnahmen entscheidend, die die Erwerbssituation von Müttern verbessern können – beispielsweise ein ausreichendes Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen. Wenn man das erhöhte Armutsrisiko von Kindern mit geringqualifizierten Eltern bedenkt, sind Investitionen im Bildungsbereich, die dazu führen, dass möglichst viele einen Abschluss erreichen, wichtig – auch wenn sich das erst auf längere Sicht auswirkt.
Nun geht Kinderarmut auf die Armut der Eltern zurück. Sehen Sie generell die Notwendigkeit vonseiten der Politik, sich stärker im Kampf gegen Armut in Deutschland zu engagieren? 
Claudia Wenzig: Der Kampf gegen Armut ist und bleibt ein wichtiges Thema. Der aktuelle Koalitionsvertrag benennt zumindest einige Aspekte zur Bekämpfung von Armut. Die gilt es nun umzusetzen und weiter zu verfolgen.“

Lietzmann erwähnt mit keiner Silbe, was es heißt, wenn Mütter – um sie geht es in der Studie, obwohl dasselbe für Väter gilt – sich für Erwerbstätigkeit entscheiden und dann eben weniger oder keine Zeit mehr für Familie haben. In Abhängigkeit vom Alter der Kinder hat das sehr unterschiedliche Folgen, zu unterschätzen ist allerdings nicht, dass auch für ältere Kinder im Pubertätsalter wichtig ist, die Eltern ansprechen zu können, wenn sie Sorgen und Nöte haben, und diese Sorgen und Nöte sind nicht terminierbar auf eine Uhrzeit. Das zeichnet gerade den Konflikt zwischen Familie und Beruf aus, dass auf der Seite der Familie, hier insbesondere der Kinder, Zuwendungsbedürfnisse dominieren, die sich nicht auf einen Termin verschieben lassen und auch an andere Personen nicht delegiert werden können, wenn es um Zuwendungen durch die Eltern geht. Demgegenüber stehen die Aufgaben im Beruf, die sich in der Regel auf andere übertragen lassen. Wie in den Programmen der etablierten Parteien zur Bundestagswahl im vergangenen Jahr ist Familie zum Anhängsel des Arbeitsmarktes geworden und wird als Praxis mit eigensinnigen Herausforderungen nicht gesehen. Familie benötigt jedoch Zeit füreinander, Kinder wollen die Eltern in der Nähe haben bzw. müssen diese ansprechbar sein, damit Ablösungsprozesse gelingen können. Dass die beiden Sozialwissenschaftler nicht einmal erwähnen, was ihr Vorschlag zur Armutsvermeidung für das Familienleben bedeutet, gibt eine Voreingenommenheit zu erkennen, die zeigt, wie sehr solche Studien auf der Basis bestimmter Annahmen durchgeführt werden.

Sascha Liebermann