„Was spricht eigentlich dagegen, dass die Gesellschaft […] ein Grundeinkommen garantiert?“ – Über Bedarfe und Bedürftigkeit

Diese Frage stellte Wolfgang Strengmann-Kuhn und erhielt unterschiedliche Antworten. Interessant ist an einer Stelle die Diskussion darüber, dass ein BGE, wenn es das Existenzminimum sicherstellen solle, es dies auch für diejenigen tun müsse, die Bedarfe über das BGE hinaus haben, es also wieder einer Prüfung bedürfe, um diese feststellen zu können. Die dürfe dann aber nicht stigmatisierend sein, das müsse bedacht werden. Strengmann-Kuhn weist dann darauf hin, dass häufig Bedarf und Bedürftigkeit verwechselt werden.

Interessant ist hieran, dass ein BGE Bedarfe und Bedürftigkeit auf eine andere Basis stellt. Bedarf steht heute zuerst einmal dafür, was eine Person zur Sicherung ihres Lebensunterhalts benötigt, hier ist das soziokulturelle Existenzminimum von großer Bedeutung. Bedürftigkeit bzw. die Bedürftigkeitsprüfung wird dann relevant, wenn eine Person die definierten Mindestbedarfe nicht aus eigenen Kräften decken kann und hierfür Unterstützung benötigt. Es muss also festgestellt werden, in welchem Umfang Bedürftigkeit zur Bedarfsdeckung vorliegt. Erfolgt die Bereitstellung von Leistungen teilweise pauschal (wie z. B. im Regelsatz der Grundsicherung), müssen Mehrbedarfe darüber hinaus gewährt werden, damit über den Regelsatz anfallende Aufwendungen, die aber noch zum Bedarf gehören, gedeckt werden können (z. B. Miete, Sozialversicherung usw.).

Der stigmatisierende Charakter heutiger Leistungen ergibt sich nicht aus der Feststellung der Bedürftigkeit als solcher, sondern aufgrund des normativen Maßstabes, an dem diese Feststellung ausgerichtet ist bzw. vor dessen Hintergrund sie vorgenommen wird. Sozialstaatliche Leistungen folgen dem Prinzip der Nachrangigkeit, d. h. jeder ist zuerst einmal dazu aufgerufen, Einkommen über Erwerbstätigkeit zu erzielen. Will oder kann er das nicht, muss er das nachweisen und die Bezugsbedingungen existierender Leistungen erfüllen, die alle mit dem Erwerbsgebot vermittelt sind. Leistungsbezieher sollen auf lange Sicht den Leistungsbezug verlassen. Wenn sie das nicht können, müssen sie dies nachweisen. Die strukturelle Stigmatisierung der Bedürftigkeit rührt also daher, dass die Leistungsbezieher dem Erwerbsgebot nicht nachkommen und sich diesbezüglich erklären müssen.

Wer diese Stigmatisierung nicht haben will, muss die normative Ausrichtung des Sozialstaats verändern. Statt Wiederaufnahme von Erwerbstätigkeit müsste Autonomieunterstützung in seinem Zentrum stehen. Die strukturelle Stigmatisierung nun begünstigt eine Haltung gegenüber Anspruchsberechtigten, die diese als Bittsteller erscheinen lassen, denen großzügig etwas gewährt wird, obwohl es sich um Rechtsansprüche handelt. Die Tragweite dieses Phänomens lässt sich allerdings damit alleine nicht erklären. Dass überhaupt das normative Fundament des Sozialstaats nach wie vor Erwerbstätigkeit ist, hat auch mit dem schwach ausgeformten Bewusstsein davon zu tun, welche Stellung die Bürger im demokratischen Gemeinwesen haben. Historisch ist das zwar verständlich, in der Gegenwart hinkt diese Deutung hinter den Lebensverhältnissen her. Ein BGE würde nun gerade dazu einen Beitrag leisten, die Stellung der Bürger im Gemeinwesen deutlicher ins Bewusstsein zu heben und zugleich das Fundament des Sozialstaats zu verändern. Voraussetzung dafür, dass es zu diesem Schritt kommen kann, also zur Einführung eines BGE, ist die Anerkenntnis dessen, dass Demokratie und Sozialstaat heute in einem Missverhältnis existieren.

Sascha Liebermann