Unter dem Titel „Hungern muß hier keiner, ein Land redet sich arm“ hatte Anne Will in die Sendung am 24. Mai Gäste eingeladen, um über Armut in Deutschland zu diskutieren.
Wie gewohnt wurden in den Einspielern Experten aufgeboten, dieses Mal um zu widerlegen, daß Armut in den letzten Jahren zugenommen habe. Auf die umstrittene Datenlage ist von verschiedenen Seiten hingewiesen worden (hier und hier). Auch die üblichen Klischees über ALG-II-Empfänger erhielten ihren Platz (Frau Knobel-Ulrich tat sich hier hervor) – da mußte sogar Hubertus Heil widersprechen. Aber, so Herr Heil, man könne doch die Wenigen nicht mit den Vielen vergleichen. Flucks waren Leistungsempfänger in zwei Klassen unterteilt, in gute und schlechte, und damit das Argument zum Mißbrauch des Sozialstaates vorbreitet, der zwar nur von wenigen (Wieviele denn und worin besteht der Missbrauch?) mißbraucht werde, dieser Zustand keinesfalls aber kleingeredet werden dürfe. Der Sozialstaat solle ja den „Bedürftigen“ nicht den „Faulen“ dienen, letztere seien doch „Schmarotzer“ (Westerwelle). Auf „Staatskosten zu leben“, das – so konnte man den Eindruck gewinnen – dürfe auf keinen Fall geschehen, dabei leben in einem Gemeinwesen immer alle auf Kosten aller und keiner aus sich selbst.
Statt bloß beklagend und ermahnend darauf hinzuweisen, wie sehr in manchen Milieus das Leben von Sozialhilfe für selbstverständlich gehalten werde, sollten wir uns fragen, woher diese Haltung kommt, was dahinter steckt. Ist jemand damit voll beschäftigt, sein Leben auf die Reihe zu bekommen, weil seine Lebensgeschichte ihm mehr nicht erlaubt, dann sollten wir ihn doch nicht schlagen und treten, sondern unterstützen – ein Bedingungsloses Grundeinkommen täte dies und noch viel mehr. Dann wäre auch die Stigmatisierung aufgehoben, die er oder sie heute noch erfahren. Gerade diejenigen, die sich am wenigsten verteidigen können, trifft die Hartz 4-Politik am stärksten.
Wo es Bürger gibt, die tatsächlich nichts beitragen wollen, werden wir dagegen ohnehin nichts ausrichten können, außer sie als Bürger zu kritisieren. Vielleicht aber sind die vielbeklagten Faulen auch nur mit etwas beschäftigt, das wir im allgemeinen nicht für richtig halten, weil es unseren Vorstellungen nicht entspricht. Darin kann zurecht ein großes Problem gesehen werden, die Neigung, andere daran zu messen, was man selbst für richtig hält.
Die Gäste waren also wieder einmal so gewählt, daß eine Polarisierung in die vertrauten Lager möglich wurde. Auf der einen Seite die Kritiker an dem zu niedrigen ALG-II-Regelsatz, die den Befürwortern einer härteren Gangart vorhielten, was es bedeutet, von ALG-II zu leben, wie weit die Schere von Arm und Reich auseinander gegangen sei und dass es eines Mindestlohns bedürfe. Auch müßten die Reichen, z.B. die „Brüder Albrecht“ (Butterwegge), stärker belastet werden. Auf der anderen Seite diejenigen, denen der Druck auf Leistungsempfänger noch nicht groß genug ist, denen zufolge die Faulen das System mißbrauchen und die wirklich Bedürftigen nicht genügend unterstützt werden. Heiner Geißler wies darauf hin, wie zerstörerisch gerade dieses ewig polare Denken ist.
Weder von Befürwortern noch von Kritikern gegenwärtiger Sozialpolitik fiel ein Wort über die Hartz-Mühle, die erniedrigende Antragsprozedur, den Druck auf Leistungsempfänger und die Verschärfung der Vergabebedingungen seit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Was zeigt uns das?
Es wird viel über arm und reich und wenig über Freiheit und Selbstbestimmung geredet. Die Selbstbestimmung der Bürger wird nicht wirklich für wichtig erachtet, ihrer Bereitschaft zu Engagement vertraut man nicht, sonst müßten die Damen und Herren nicht ständig Ausnahmen skandalisieren, statt nach der Mehrheit der Bürger sich zu richten. Angst und Bange kann einem auch werden, wenn Hubertus Heil angesichts eines starken Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen sagt, wir müssen diesen Zusammenhang „durchbrechen“ (Heil). Soll Bildung nun verordnet, eine neue Zwangsveranstaltung eingeführt werden? Als setze Bildung nicht die Bereitschaft, sich zu bilden, voraus. In sie gilt es zuerst einmal zu vertrauen; wo sie nur in geringem Maße vorhanden ist, wäre sie umso behutsamer zu fördern. Das allerdings tut nicht einmal unser Schulwesen: es herrscht allgemeine Schulpflicht.
Das größte Hindernis für die Einführung eines BGEs bleibt also das Mißtrauen. Solange wir nicht bereit sind, den Bürgern die Verantwortung zu geben, die sie gemäß unser demokratischen Ordnung tragen müssen, solange werden wir auf der Stelle treten.
Sascha Liebermann