Demokratische Instrumente können missbraucht werden – können sie?
Niemand würde wohl bestreiten, dass es einseitige Berichterstattung, Parteinahme, voreingenommene Journalisten und ähnliches gibt. Gerade in den Wochen vor der Bundestagswahl konnte man beobachten, wie stark Moderatoren in Diskussionssendungen teils volkspädagogisch eingriffen. Diese Vorgänge kann man kritisieren, beklagen, bedauern, sich für Veränderungen einsetzen. Sie sind nicht gerade pluralitätsfördernd, doch sind sie schon eine Gefahr?
Sicher, sich über Sachfragen zu informieren ist durchaus aufwendig, es braucht Zeit, in vielen Fragen fehlt einem der Sachverstand, um die Zusammenhänge beurteilen zu können. Das ist richtig. Geht das Experten aber nicht ebenso außerhalb des Gebiets ihrer Expertise? Die jüngste Ablehnung einer Rentenreform in der Schweiz wird nun wieder einmal als Beispiel dafür angeführt, weshalb Volksabstimmungen doch eine zweifelhafte Angelegenheit sind. Zu diesem Schluss gelangt Albrecht Müller (Nachdenkseiten), kritischer Geist gegen voreingenommene Meinungsbildung. Seine Vorbehalte äußert er nicht das erste Mal. Was schreibt er genau?
„Die Möglichkeit, Volksentscheide zu beantragen, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Belebung der öffentlichen Debatte in Deutschland beitragen. Aber ob dabei fortschrittliche, sachlich gerechte und der Mehrheit der Menschen dienende Lösungen herauskommen, ist fraglich und wird quasi jeden Tag fraglicher – je mehr unsere Medien nämlich in den Einflussbereich von großen Interessen geraten. Medien und die hinter ihnen steckenden Interessen können, wie man an der Schweiz im konkreten Fall sieht, auch Volksentscheide zu beeinflussen versuchen und dies mit Erfolg tun.“
Zuerst einmal kann er Volksentscheiden (in der Schweiz sind es „Volksabstimmungen“) etwas abgewinnen. Aber, aber – dann kommt seine Sorge, was dabei wohl für Entscheidungen herauskommen? Müsste er diese Sorge nicht gegen die parlamentarische Demokratie in Deutschland ebenso richten? Sie hat ja nun gerade etliche Entscheidungen hervorgebracht, mit denen Müller nicht einverstanden ist. Er verweist auf den zunehmenden Einfluss bestimmter Interessenlagen auf die Medien und deren Berichterstattung. Wie weit aber reicht dieser Einfluss, gar soweit, Wahlergebnisse zu seinen Gunsten richten zu können? Behauptet ist das schnell, aber wie sieht es mit Belegen aus? Der Wunsch, Einfluss zu nehmen und gewünschte Ergebnisse zu erzielen ist das eine, wie die Bürger abstimmen das andere. Müller verweist auf einen Artikel über die Bemühungen der Schweizer SVP, die Abstimmung über die Rentenreform in ihrem Sinne zu beeinflussen. In dem Artikel, auf den er sich beruft, ist davon die Rede, dass die SVP die Schweizer Stimmbürger „verführte“. Zu einer Verführung gehören aber immer zwei Seiten, die einen, die verführen wollen, die anderen, die sich verführen lassen. Beachtet man das nicht wird daraus schnell eine entmündigende Behauptung. In der Schweiz gibt es zu jeder Volksabstimmung ein Argumentarium, das Pro- und Contra-Positionen aufführt. Die Berichterstattung in den Medien ist umfangreich. Gerade die SVP ist nun des öfteren schon mit ihren Vorhaben gescheitert. Warum erwähnt Müller das nicht? Und selbst wenn Volksabstimmungen unliebsame Ergebnisse haben, dann sind es Ergebnisse, von denen man genau weiß, dass es für sie tatsächlich Mehrheiten gab. Das ist eine gute Basis für Auseinandersetzungen. In repräsentativ geprägten Systemen bleiben zwischen den Wahlen nur die Umfagen der Demoskopen, auf die man sich berufen kann. Das sind aber keine Abstimmungen, Befragungen sind folgenlos, der Befragte hat für seine Antwort praktisch nicht die Verantwortung zu übernehmen (siehe hier). Was schreibt Müller noch?
„An diesen Beobachtungen und Erkenntnissen sollte man nicht vorübergehen, wenn man den durchaus demokratisch klingenden Vorschlag für mehr Volksentscheide vertritt. Das neueste Beispiel aus der Schweiz zeigt, dass die vierte Beobachtung in der Realität belegt wird. Die rechtsnationale SVP kann offenbar viel Geld und viel publizistische Macht mobilisieren. Bei uns wäre das in ähnlich gelagerten Fällen einer Abstimmung durchaus auch ähnlich. Der Volksentscheid kann sehr schnell zum Einfallstor der recht bequemen Durchsetzung der Interessen publizistisch mächtiger und reicher Gruppen und Personen werden. Das ist der eigentliche Grund für meine Skepsis.“
Ja, kann sie, sie kann zum Einfallstor werden. Volksabstimmungen sind kein Automatismus, sie leben vom Bürgerethos, die Bürger müssen sie selbst ernst nehmen. Das gilt für eine repräsentative Demokratie allerdings genauso, auch sie kommt ohne das Bürgerethos nicht aus. In Deutschland ist die Haltung zur Demokratie eben auch ambivalent, auf der einen Seite wird den Bürger viel zugetraut, auf der anderen Seite wenig.
Skepsis, so wie Müller, kann man haben, sollte sich aber doch genau anschauen, was in der Schweiz passiert. Und ist es nicht so, dass der von Müller befürchtete Fall immer eintreten kann, vor allem dann, wenn die Bürger willfährig einer Kampagne folgen? Doch tun sie das? Unterschätzt Müller womöglich nicht die Eigensinnigkeit des täglichen Lebens? Wie würde er die AfD-Erfolge in Deutschland erklären? Was wäre wohl passiert, wenn es eine Volksabstimmung zu den Fragen gegeben hätte, die die Wähler der AfD – und sicher auch andere – umtreiben? Wäre dann womöglich nicht schon viel früher darauf reagiert worden? Würde die AfD dann überhaupt soweit gekommen sein? Man darf nicht vergessen, dass die Sprache mancher in der AfD, die so heftig in den Medien kritisiert wurde, doch eine Sprache ist, die in der Diskussion um Sozial- und Arbeitsmarktpolitik in vielleicht milderer Form ebenso anzutreffen ist. Wenn die Bürger zum Objekt werden, zu einer Sache, die man hin- und herschieben will durch „Aktivierung“ und „Sanktionen“, die „Druck“ benötigen oder einen „Arschtritt“ (Christian Lindner, FDP). Was ist das für eine Haltung, wenn eine Bundesministerin Fraktionsvorsitzende wird und der Regierung ankündigt, dass sie „ab morgen […] in die Fresse] kriegen“?
Worin „sachlich gerechte“ Entscheidungen bestehen und was „der Mehrheit dienende Lösungen“ sind, ist nicht abstrakt zu sagen. Entscheidungen müssen gewollt werden, Argumente reichen dafür nicht aus. Entscheidungen haben mit tief verankerten Gerechtigkeitsvorstellungen zu tun. Ganz gleich, welches Ergebnis eine Volksabstimmung bringt, sie ist zugleich der Auftrag, sich mit ihren Folgen auseinanderzusetzen, und zwar sehr konkret. Das macht Demokratie greifbarer, sie rückt näher an die Bürger heran. Damit sind repräsentative Elemente nicht getilgt, aber relativiert.
Die Vorbehalte gegen direkte Demokratie sind doch sehr ähnlich wie diejenigen gegen das BGE. Es geht offenbar um eine ganz grundsätzliche Frage, welche Stellung man den Bürgern als Trägern der politischen Ordnung einräumt und wie sehr man bereit ist, auf die Verantwortungsbereitschaft dafür zu setzen, dass sich eine für alle tragbare Lösung für Probleme finden wird. BGE und direkte Demokratie gehen in den Augen mancher hier sehr weit. Doch ein Blick auf die Grundfesten der Demokratie zeigt, dass dies nur konsequent wäre, statt in alten Vorbehalten zu verharren (Siehe auch hier)
Sascha Liebermann