…darum ging es in einem Interview mit dem Kinderarzt und Entwicklungsforscher Remo Largo in der Neuen Zürcher Zeitung. Siehe auch den Bericht über ein Gespräch mit Jugendlichen in derselben Zeitung hier. Largo hat Langzeitstudien zur kindlichen Entwicklung am Zürcher Kinderspital durchgeführt, woraus seine bekannten Bücher entstanden sind, zuletzt „Das passende Leben“. Darin spricht er gegen Ende über die Chancen, die ein Bedingungsloses Grundeinkommen bedeute, geäußert hatte er sich dazu ebenso in einem Interview. Largo kritisierte immer wieder die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern heute, wie wenig kinderfreundlich sie seien. In seinem letzten Buch, wie der Titel schon sagt, geht es um ein Leben, das den menschlichen Bedürfnissen gemäß ist. Irritierend ist an seinen Befunden manchmal, welche Schlüsse er daraus zieht. So hat er wiederholt festgestellt, dass Eltern sich zu wenig Zeit für ihre Kinder nehmen, weil dies so sei, müssten Betreuungseinrichtungen das auffangen. Dabei läge eine ganz andere Antwort nach seinen Forschungsbefunden viel näher. Den Eltern die Möglichkeit zu geben, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Das Arbeitsethos ist in der Schweiz stark ausgeprägt, es gibt nicht einmal eine dem Elterngeld vergleichbare Leistung und der Wiedereintritt in den Beruf nach dem Mutterschutz (nach vier Monaten) ist nicht ungewöhnlich. Im Grunde müsste Largo für ein BGE plädieren, damit Eltern genau das ermöglicht wird und als erwünscht gilt, mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen. Doch diesen Schluß zieht er so klar auch in seinem Buch nicht. Im jüngsten Interview klingt das so:
„Herr Largo, Sie haben ein Berufsleben lang und mit vielen Büchern dafür gekämpft, dass Kinder mehr Freiheiten erhalten. Mein Eindruck ist aber, dass ihr Alltag immer strukturierter wird.
Ja, leider. Es ist schwer vermittelbar: Kinder sollten möglichst oft mit anderen Kindern selbstbestimmt spielen können, altersdurchmischt, zigtausend Stunden. Für ihre Entwicklung ist dies eine Notwendigkeit. Viele betrachten das freie Spielen aber als Zeitverlust. Schon früh wird versucht, den Kindern weiss Gott was alles beizubringen. Jetzt gehst du ins Ballett, in den Fussballklub, jetzt spielst du ein Instrument, jetzt machen wir ein Umweltprojekt.“
Hier hebt er auf die durchgeplante Kinderheit ab, weil „freies Spielen“ als Zeitverlust gilt. Betreuungseinrichtungen tragen allerdings zu dieser Durchplanung bei, weil das Spielen immer in einer Beaufsichtigungssituation stattfindet und nicht verborgen vor den Blicken der Eltern oder anderer Erwachsener. Dann heißt es:
„Trauen wir den Kindern zu wenig zu?
Bei mir war es schon im frühen Schulalter so: An freien Nachmittagen sagte ich nach dem Mittagessen zu Hause in Winterthur Tschüss und kam erst um 18 Uhr wieder nach Hause. Meine Mutter vertraute darauf, dass wir Kinder füreinander Sorge tragen. So haben sich Freundschaften gebildet. Leider ist dies heute kaum mehr möglich.“
Das ist genau das unbeaufsichtigte Spielen, das in Einrichtungen so nicht möglich ist. Beaufsichtigungsverzicht und dennoch erreichbar, weil jemand zuhause ist, falls der Wunsch besteht, die Nähe zu suchen.
„Kinder spielen gerne – und ab welchem Alter können sie Freundschaften entwickeln?
Freundschaften entstehen aus Beziehungen. Bei Kindern beginnt es damit, dass sie mit anderen Kindern zusammen sein wollen. Vieles lernen sie von anderen Kindern viel besser als von Erwachsenen. Aus gemeinsamen Erfahrungen und Interessen entstehen Freundschaften. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass man einander mag und den anderen so nimmt, wie er ist. Dies ist, wenn Kinder in Kleinfamilien ohne Kontakt zu anderen Kindern aufwachsen, kaum mehr möglich. Krippen sind daher weit mehr als nur ein Ort der Kinderbetreuung, wenn die Eltern arbeiten. Sie ermöglichen dem Kind Erfahrungen, vor allem soziale, die für seine Entwicklung sehr wichtig sind. Im Kindergarten merkt man sehr gut, welche Kinder zuvor in der Krippe waren. Sie sind sozial und sprachlich weiter.“
Hier nun müsste Largo im Grunde sagen, dass der heutige Zustand, wie er es in anderen Interviews kritisiert, ein Missstand ist. Mit Krippen auf ihn zu antworten, ist besser als nichts zu tun. Noch besser aber wäre es, den Erfahrungsraum Familie dadurch zu schützen, das Eltern die Möglichkeit hätten, eben mehr zuhause zu sein und dann ihren Kindern die Begegnungen mit anderen Kindern zu ermöglichen. Genau das sieht er hier nicht vor.
„Die Kinder sollen möglichst früh in die Krippe?
Wenn es keine gute Alternative gibt, ab dem zweiten bis dritten Lebensjahr. Die Krippe ist für mich Teil des Bildungssystems und sollte vom Staat auch so finanziert werden. Im Vergleich mit den meisten europäischen Ländern ist die Schweiz diesbezüglich ein Entwicklungsland.“
Hier zumindest wird deutlich, dass es gute Alternativen geben kann, falls es sie nicht gibt, ist die Krippe wichtig. Dass die Krippe bzw. der Kindergarten ein wichtiger Ort für Kinder sein kann, ist gar nicht strittig, die praktische Frage ist lediglich, woran lässt sich entscheiden, ab wann er ein wichtiger Ort ist? Das lässt sich leicht daran erkennen, dass ein Kind gerne dorthin geht, am Wochenende schon den Montag herbeisehnt und von den Eltern nicht überredet werden muss. Das ist etwa zwischen drei und viereinhalb Jahren der Fall, das heutige Kindergarteneintrittsalter in Deutschland bewegt sich an der unteren Grenze und wird schon für zu spät gehalten.
„Es gibt aber auch Kritiker, die vor einer bindungsunfähigen Generation warnen. Weil die Kinder immer früher in Krippen geschickt würden, blieben der Aufbau enger Bande zu den Eltern und damit langfristig die Bindungsfähigkeit auf der Strecke.
Das liegt aber nicht an den Krippen, sondern daran, dass viele Eltern nicht genügend Zeit für ihre Kinder haben. Und es zeigt sich noch ein anderes Problem: Historisch gesehen haben Eltern ihre Kinder nie alleine aufgezogen, sondern in Lebensgemeinschaften mit anderen Bezugspersonen. Die fehlen heute weitgehend. Jetzt sind wir aber vom Thema abgekommen.“
Eine interessante, wenn auch nicht sehr ausführliche Anmerkung von Largo, hier besonders auf die gemeinsame Zeit von Eltern und Kindern bezogen.
„Wenn man Ihnen zuhört, erhält man den Eindruck, dass Sie sich ziemlich sorgen um die junge Generation.
Sehr. Ihr Leben ist in Schule, Lehre und Studium hochgradig fremdbestimmt. Ich hatte kürzlich Kontakt mit vier jungen Frauen, die vor der Berufsmatur stehen. Sie erzählten mir, wie viel Zeit sie für sich selber haben: einen halben Tag pro Woche – bestenfalls. Das ist eine Katastrophe. Damit junge Menschen beziehungsfähig werden und sich in der Gesellschaft aktiv beteiligen, müssen sie ausreichend Zeit haben, um durch Erfahrungen mit Gleichaltrigen sozial kompetent zu werden und sich mit Lebensfragen, den Problemen von Gesellschaft und Wirtschaft auseinanderzusetzen. Den notwendigen Freiraum dafür will man ihnen aber nicht geben. Die jungen Menschen sollen möglichst viel Zeit in ihre Ausbildung investieren, damit sie in einer extrem leistungsorientierten Gesellschaft bestehen können. Was aber ist, wenn sie nur über ungenügend ausgebildete soziale Kompetenzen verfügen? Sozial kompetent werden die jungen Menschen nur über eigenständige soziale Erfahrungen.“
Eine treffende Kurzanalyse, die deutlich macht, weshalb ein BGE so wichtig ist.
Sascha Liebermann