Gesine Schwan rief in der Zeit ihre Genossen aus der SPD zum Umkehren auf, aber wohin? Der Beitrag war noch vor der Landtagswahl in Bayern erschienen.
Ihre Diagnose beginnt damit, die Erfahrungen, die Grund dafür seien, die AfD zu wählen, ernst zu nehmen:
„Folgt man verschiedenen Analysen, sind dies die wesentlichen Gründe, die sie antreiben: Sie fühlen sich nicht angemessen anerkannt und wertgeschätzt, empfinden einen massiven Macht-, Zugehörigkeits- und Kontrollverlust in ihrer Arbeits- und Lebenswelt, und sie haben Angst vor der Zukunft.“
Sie verweist darauf, dass manche diese Sorgen mit Hilfe des Verweises auf einen Sündenbock oder mehrere zu artikulieren versuchen. Was könnte die SPD dem entgegensetzen?
„Kurzfristig dringend notwendig ist es daher, ihnen gegen ihr Ohnmachtsgefühl eine „Ermächtigungserfahrung“ zu bieten, ihnen die Chance auf eine konkrete Verbesserung und Gestaltung ihrer Situation zu bieten. Finanzielle Wahlversprechen reichen nicht aus. Das bewährte sozialdemokratische Konzept der Mitbestimmung und Teilhabe muss wieder fruchtbar gemacht werden, und zwar möglichst in übersichtlichen, vor allem kommunalen Kontexten.“
So in etwa geht es in dem gesamten Beitrag, konkrete Vorschläge oder zumindest Skizzen, was denn anders gemacht werden könnte, fehlen. „Mitbestimmung und Teilhabe“ sind in der Sozialdemokratie jedoch vor allem über Erwerbsarbeit definiert, damit bliebe die SPD eben im alten Fahrwasser, unbezahlte Arbeit bliebe degradiert, Arbeitsplätze würden höher veranschlagt als Leistung. Das Gemeinwesen bliebe eine Erwerbstätigengsellschaft, statt als Bürgergemeinschaft (siehe auch hier) verstanden zu werden. Das wäre also die Umkehr, eine in die Vergangenheit.
Verantwortung wird zugleich unkenntlich gemacht:
„In den letzten Jahrzehnten sind die Wirtschaft und in ihr die Arbeitsplätze – ein zentraler Bereich für Kontrolle und Selbstwertgefühl – dem Regulierungs- und Schutzbereich des Staates immer mehr entglitten. Politische Deregulierung und ökonomische Globalisierung haben die nationale Politik überall in der westlichen Welt spürbar entmachtet.“
Das klingt gerade so, als sei diese Entwicklung nicht durch politische Entscheidungen befördert worden, als habe man nicht den größten Niedriglohnsektor Europas schaffen wollen, wie einst der Bundeskanzler Gerhard Schröder es vor Augen hatte. An anderer Stelle räumt Schwan das durchaus ein. Dann heißt es z. B.:
„Inzwischen hat die SPD viele der negativen Folgen der Agenda 2010 revidiert, vor allem hat sie in der jetzigen Legislaturperiode dafür gesorgt, dass der längst fällige Mindestlohn eingeführt wurde. Das wird ihr als Juniorpartner in der großen Koalition allerdings kaum zugerechnet, und den Kern der Enttäuschung und Abwendung ehemaliger Wähler hat sie damit nicht erreicht.“
„Viele der negativen Folgen“ – davon sind Teile eingeschränkt worden, Sanktionen wurden jedoch verschärft. Andrea Nahles als Bundesministerin zeichnete sich gerade dadurch aus, darüber können schöne Vokabeln nicht hinwegtäuschen. Und auch früher, vor der Agenda 2010, gab es Sanktionsmöglichkeiten für Leistungsbezieher, die sich nicht an ihre Pflichten hielten, das wird heute gerne übersehen. Und der Mindestlohn? Er ist nahe am Hungerlohn.
„Dass die SPD frustrierte Wähler an die Rechte verloren hat, ist also zu erklären. Wie kann sie sie zurückgewinnen und Nichtwähler mobilisieren? Sie muss, um wieder Glaubwürdigkeit zu erlangen, Fehlentwicklungen der eigenen Politik eingestehen und korrigieren.“
Ja, aber in welche Richtung, einfach zurück zum Alten?
„Neben der Nichteinführung des Mindestlohns lag der wichtigste Fehler der Agenda 2010 darin, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit das Arbeitslosengeld II auf niedrigem Niveau einzuführen, mit all den demütigenden Auflagen, z. B. das Angesparte offenzulegen und vor der staatlichen Unterstützung zu verbrauchen. Den Arbeitslosen wurde de facto die Schuld für Ihre Arbeitslosigkeit zugeschrieben. Das war eine bis heute anhaltende tiefe Kränkung. Hier muss die SPD aussprechen, dass dies ungerecht und falsch war, um die betroffenen Menschen zurückzugewinnen.“
Eben, eine Rückkehr zur alten Arbeitsgesellschaft, kein Blick nach vorn, keine Erneuerung, die an der Stellung der Bürger im Gemeinwesen ansetzt und sie zum Maßstab für Sozial- und Arbeitsmarktpolitik macht.
Sascha Liebermann