„Dem Sozialstaat wieder eine Zukunft geben“…

…ein Beitrag von Carsten Sieling in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Mit einer einleitenden Kritik an der Perspektivlosigkeit im heutigen Sozialstaat, schreibt Sieling:

„Es ist deshalb an der Zeit, dem Sozialstaat wieder eine Zukunft zu geben. Er muss neue Sicherheiten und Chancen bieten, muss Antworten geben auf die Herausforderungen der Zeit und dem zunehmenden Fachkräftemangel wie den Abstiegsängsten vieler Menschen gleichermaßen begegnen. Die Frage ist: Wie gelingt es, Hartz IV die Grundlage zu entziehen?“

Dazu macht er Vorschläge, wie z. B. eine Kindergrundsicherung, die mit steigendem Einkommen abschmilzt, auskömmliche Löhne und ein „Anrecht auf Arbeit für alle“. So berechtigt seine Kritik ist, verbleibt er doch im Geist von Hartz IV, wenn dieser als Geist der Arbeitsgesellschaft verstanden wird. Arbeit, also Erwerbsarbeit, wird zum Selbstzweck, statt sie am Wertschöpfungsbeitrag zu messen bzw. daran, ob sie zu einer Problemlösung beiträgt. Wird sie dazu nicht mehr ins Verhältnis gesetzt, wird sie zur Beschäftigungsmaßnahme, das untergräbt die Grundfesten von Leistungsbereitschaft. Entsprechend wird argumentiert:

„Wir brauchen ein Anrecht auf Arbeit für alle. Erwerbsarbeit ist nicht nur wichtig für die Existenzsicherung, sondern auch für die gesellschaftliche Teilhabe. Daher dürfen wir nicht nur fordern, sondern müssen vor allem Chancen eröffnen. Für Menschen, die keinen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt bekommen, müssen wir einen sozialen Arbeitsmarkt schaffen. Es gilt, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, indem Beschäftigungsverhältnisse – meist gemeinnützige – finanziell gefördert werden.“

Jenseits von Erwerbstätigkeit gibt es gar nichts, dabei übersieht Sieling wie so viele die sogenannte unbezahlte Arbeit. Wer es mit „Chancen“ ernst meint, sollte es doch den Bürger überlassen, wo sie ihre Chancen sehen, statt zu definieren, worin Chancen zu bestehen haben. So bleiben die weiteren Ausführungen genau darin stecken und weisen gerade keinen Weg aus der Erwerbszentrierung. Das wird auch dort deutlich, wo es um eine Absicherung für diejenigen geht, die nicht erwerbstätig sind:

„Wir brauchen eine Grundsicherung als Hilfe zur Selbsthilfe. Durch die Stärkung der Arbeitslosenversicherung, das Recht auf Arbeit und die Kindergrundsicherung werden künftig deutlich weniger Menschen auf eine Grundsicherung angewiesen sein. Diejenigen, die aber weiter darauf angewiesen sein werden, müssen Hilfe zur Selbsthilfe erfahren statt Gängelei. Dazu muss das Existenzminimum fair berechnet, Leistungen der Gesundheitsförderung, Schuldner- und Suchtberatung sowie Unterstützungsmaßnahmen für Familien müssen ausgebaut und leichter zugänglich gemacht werden. Eine Kooperation auf Augenhöhe kann nur entstehen, wenn die Zumutbarkeitsregeln überprüft und Sanktionen entschärft werden. Insbesondere dürfen die Wohnkosten nicht gestrichen und die Sondersanktionen für junge Menschen müssen abgeschafft werden.“

„Hilfe zur Selbsthilfe“ – heißt was genau? Sanktionen müssen entschärft werden, es soll sie aber weiter geben. Wie kann von „Augenhöhe“ gesprochen werden, wenn die eine Seite Instrumente hat, um die andere unter Druck zu setzen. Es ist immer wieder erstaunlich, dass selbst Vorschläge mit guten Absichten diesen Zusammenhang nicht sehen. Wer Augenhöhe will, muss die Möglichkeit schaffen, Nein sagen zu können, damit werden Maßnahmen zu wirklichen Angeboten. Alles andere sind Illusionen. Es wäre ganz einfach, diesen Weg zu gehen, in dem die Bürger als Bürger in ihrer Stellung in der Demokratie ernstgenommen würden, also auf ihre Mündigkeit vertraut wird. Dann lässt sich leicht Augenhöhe herstellen, indem ein BGE verfügbar ist, das nichts anderes wäre, als die nötige Einkommensabsicherung, die es als Sockel braucht.

Sascha Liebermann