„Hartz IV hinter uns lassen“ – aber mit Gegenleistungspflicht? Zum Beschluss der BAG Wirtschaft und Finanzen…

…von Bündnis 90/ Die Grünen. Hier geht es zum Beschluss und hier zur Simulation des ifo Instituts zu etwaigen Kosten einer Garantiesicherung.

In Abschnitt 7 auf S. 3 des Beschlusses geht es um „Menschenbild und Arbeitsanreize“. Da ist folgendes zu lesen:

„Unsere Reformvorschläge beruhen auf einer Gerechtigkeitsphilosophie der Reziprozität: Die Mitglieder der Gesellschaft werden unterstützt, weil sie sich auch in die Gesellschaft einbringen und ihre Regeln akzeptieren…“

Das hier verwendete Reziprozitätsverständnis ist doch einigermaßen überraschend, weil Reziprozität nur im Sinne eines Tausches von Leistung und Gegenleistung betrachtet wird. Das hat seinen Platz im Wirtschaftsgeschehen, nicht aber bezogen auf das Gefüge einer politischen Vergemeinschaftung, die eine Demokratie wie die unsere trägt (Art. 20 (2) GG). Entsprechend gibt es im Grundgesetz auch keine Erwerbsobliegenheit. Der Beschluss der AG zumindest in diesem Abschnitt verkehrt die politischen Verhältnisse ins Gegenteil. Nicht erhalten „Mitglieder der Gesellschaft“ Unterstützung, weil sie sich einbringen. Sie müssten Unterstützung erhalten (auch wenn der Sozialstaat das gar nicht abbildet), weil sie Träger der politischen Ordnung sind, ohne dass sie dafür eine bestimmte Leistung zu erbringen hätten. Dass Regeln einzuhalten sind, steht außer Frage, sonst kann es kein Zusammenleben geben, aber die Regeln sind solche, die sich der Souverän selbst gegeben hat, sie beruhen nicht auf einer sanktionsbewehrten Gegenleistungspflicht.

Der Passus geht folgendermaßen weiter:

„In der idealen Form ist jeder Mensch frei und selbstbestimmt und agiert gleichzeitig solidarisch.“

Soll hiermit die vorangehende Verkehrung ins Gegenteil gerechtfertigt werden? Denn ein Ideal vom Menschen als frei und solidarisch zu entwerfen, muss – wie könnte es anders sein – darauf hinauslaufen, es als nicht realistisch zu erklären. Jetzt eine Wendung:

„Ein gängiges Argument für das derzeitige System der Sozialhilfe ist, dass diese Reziprozität nur möglich wäre, wenn Menschen, die nicht arbeiten, sanktioniert würden. Auch die reformierte Grundsicherung wird nur das Existenzminimum zur soziokulturellen Teilhabe an der Gesellschaft abdecken. Wir fordern keine höheren Sätze als das soziokulturelle Existenzminimum hinaus [sic].“

Die Sanktionierung – denkt man systemimmanent – folgt daraus, dass eine Gegenleistung erwartet wird. Insofern ist also das bisherige Gefüge im Arbeitslosengeld II und darüber hinaus ganz im Einklang mit dem Reziprozitätsverständnis des Beschlusses. Wer sich nicht einbringt, erhält nichts. Wenn nun die reformierte Grundsicherung, wie der Beschluss sie vorschlägt, am Gegenleistungsgedanken festhalten will, was geschieht dann, wenn jemand sich nicht mehr einbringt? Müsste er nicht irgendwie dafür belangt werden können?

Zieht man Abschnitt 4 des Beschlusses hinzu, der dafür plädiert, das Existenzminimum nicht zu sanktionieren, wenn jemand einen „Job“, den er „subjektiv als unzumutbar“ erachtet, nicht annimmt, hinterlässt einen das ratlos. Er steht unmittelbar im Widerspruch zu Abschnitt 7. Was ist hieraus zu schließen? Entweder gibt man die Sanktionen auf (Abschnitt 4) oder man behält das Gegenleistungsprinzip bei (Abschnitt 7), beides ist nicht möglich. Robert Habecks Vorschlag, wie er sich bislang darstellt, sieht gerade vor, nicht mehr zu sanktionieren. Dann aber entspricht das Leistungsgefüge nicht dem engen Reziprozitätsverständnis, das an entsprechender Stelle vorgebracht wird. Hier scheint es noch erheblichen Klärungsbedarf zu geben. Deutlich wird auch, wie groß die Unklarheit bezüglich der politischen Ordnung sind. Das allerdings überrascht weniger, ist es doch ein verbreitetes Phänomen.

Siehe zu Reziprozität auch hier sowie hier.

Sascha Liebermann