…das kommt einem anlässlich des Beitrags von Florian Diekmann bei Spiegel Online in den Sinn. So verdienstvoll es ist, auf die Unübersichtlichkeit des Leistungsspektrums und die eigenwillige Konstruktion einiger Leistungen im deutschen Sozialstaat aufmerksam zu machen (siehe auch hier), so mehr verwundert das sozialmechanische Denken. Als werde Leistungsbereitschaft direkt von – Achtung black box – „Anreizen“ einfach so hervorgebracht oder gemindert, als seien „Anreize“ aus sich heraus in irgendeiner Weise wirksam. Das ist zwar eine häufig anzutreffende Vorstellung, bei näherer Betrachtung ist sie jedoch nicht haltbar. „Anreize“ sind immer im Verhältnis zu „Präferenzen“ zu betrachten und da wird es komplex, denn worin bestehen diese Präferenzen, woher kommen sie? Das nachstehende Schaubild macht deutlich, wie der Ausruck „Anreize“ sinnvoll verwendet werden kann, es stammt aus einem Beitrag von Walter Edelmann (siehe auch hier).
Für die Frage, wie sich Leistungsbereitschaft und Einkommenserzielung zueinander verhalten, ist es wichtig, drei Momente zu unterscheiden, um die Komplexität des Zusammenhangs zu verstehen. Zuerst ist das Moment zu sehen, 1) das wir als Berufung, „inneren Beruf“ (Max Weber) oder auch intrinsische Motivation bezeichnen können, hier geht es um die Affinität einer Person zu einer Aufgabe oder einem Aufgabenkomplex. Das hat mit Bildung gar nichts zu tun und findet sich in Aufgabenfeldern, die häufig als wenig anspruchsvoll bezeichnet werden (z. B. Reinigungsdienste, Müllabfuhr, Haushalt und Erziehung usw.). Die Ambitionen, die sich auf das Aufgabenfeld richten, sind sehr unterschiedlich. Entscheidend ist, dass für die Person Berufung und Aufgabenfeld miteinander verbunden sind. Davon zu unterscheiden ist, 2) welche Wertschätzung einem Aufgabenkomplex in einem Gemeinwesen zukommt, was nicht selten darin Ausdruck erhält, dass es als Beruf institutionalisiert ist (siehe auch hier). Im günstigsten Fall entsprechen sich 1) und 2); für eine dauerhafte Leistungserbringung und -bereitschaft ist eine gewisse Entsprechung unerlässlich. Von diesen beiden Momenten zu unterscheiden ist 3) die Gratifikation oder was für heute von größter Bedeutung ist: die normativ gebotene Einkommenserzielung über Erwerbstätigkeit. Damit wird allerdings gesetzt, dass Berufung, Beruf und Erwerbsförmigkeit zusammen fallen müssen.
Wenn über „Arbeit“ bzw. Erwerbstätigkeit gesprochen wird, müssen alle drei Momente berücksichtigt werden. Nicht von ungefähr schützt der Art. 12 GG die freie Berufswahl, um das Moment der Berufung zu größtmöglicher Wirkung kommen zu lassen. Nicht-erwerbsförmige Aufgabenfelder sind nicht untersagt, normativ jedoch der Erwerbstätigkeit nachgeordnet. Mit Hilfe dieser Unterscheidung wird nun auch deutlich, weshalb die immer wieder anzutreffende Gleichsetzung von Berufung und Einkommenschance extrem verkürzt ist. Je nach Lebensphase haben für jemanden andere Aufgaben Vorrang, entsprechend ist z. B. die Inanspruchnahme von Sozialleistungen dafür vernünftig und sinnvoll, wenngleich sie nur als Notlösung dienen. Die verschiedenen Konstellationen, in denen die drei Momente auftreten können, erklärt die Befunde, über die Ronald Gebauer und Hannah Petschauer im Zusammenhang mit ihrer Forschung zur Armutsfalle berichten.
Diekmann weist zwar zum einen auf Widersprüchlichkeiten und Abstimmungsprobleme im Sozialstaat zurecht hin, die Verknüpfung des einen mit der Frage nach der Erwerbsorientierung auf der anderen ist jedoch ein Kurzschluss. Eltern, ganz besonders alleinerziehende, stehen vor anderen Herausforderungen als Alleinstehende, der Berufung in einem Beruf zu folgen, erlaubt Erfahrungen, die anderswo nicht zu machen sind und gleichwohl kann das eine nicht gegen das andere ausgespielt werden.
Weil es so ist, kann die Lösung nicht darin gefunden werden, einen Weg vorzugeben, was wir heute mit dem Erwerbsgebot machen, sondern die unterschiedlichen Wege zu ermöglichen, denn von allen gleichermaßen lebt ein Gemeinwesen. Doch welche Lösung öffnet Wege im Gegensatz zu heute? Da bleibt nur eine übrig, ein Bedingungsloses Grundeinkommen, denn alle anderen machen mit der Vielfalt des Lebens nicht ernst.
Wenn Diekmann am Ende seines Beitrag darauf hinweist, wie komplex das Leistungsgefüge ist, wie sehr die Leistungen teils gegeneinander arbeiten und wie schwer es Alternativen haben (die im System verbleiben), wundert einen, weshalb er nicht auf ein BGE zu sprechen kommt. Einige der von ihm benannten Probleme gäbe es ja mit einem BGE gar nicht, es würde Komplexität aus dem System herausnehmen – schon durch Verzicht auf Einzelfallprüfung. Nur im Falle bedarfsgeprüfter Leistungen oberhalb eines BGE stellt sich diese wieder als Herausforderung. Schon lange aber wird sogar von Seiten der Bundesagentur für Arbeit dafür geworben, mehr auf Pauschalen zu setzen, sonst ist eine Vereinfachung nicht möglich.
Sascha Liebermann
P.S.: Zur weiteren Vertiefung der Diskussion über die Armutsfalle, siehe:
Zur Kritik des Armutsfallentheorems (Ronald Gebauer und Hanna Petschauer)
Die Arbeitslosigkeitsfalle vor und nach der Hartz-Reform (Georg Vobruba und Sonja Fehr)
Fordern statt Fördern? – Nein! Wege aus Arbeitslosigkeit und Armut erleichtern (Ronald Gebauer)
Arbeit gegen Armut. Grundlagen, historische Genese und empirische Überprüfung des Armutsfallentheorems (Ronald Gebauer)