…diese Frage stellt sich nach ersten selbstbelobigenden Äußerungen aus den Reihen der Parteien, die kürzlich ein Sondierungspapier der Verhandlungen zu einer Ampelkoalition veröffentlicht haben. Hartz IV werde nun abgeschafft oder überwunden, war zu vernehmen, eine Ankündigung, die einem aus den letzten Jahren vertraut vorkommt. Doch ist da etwas dran? Die Zweifel sind mehr als berechtigt (siehe auch den Beitrag von BR24). Das Papier erlaubt einen gewissen Ausblick auf etwaige Vorhaben, auch wenn es bald schon überholt sein kann. Ich kommentiere hier ausgewählte Passagen, die im Zusammenhang der Grundeinkommensdiskussion meines Erachtens besonders wichtig sind.
Schon der Auftakt ist vollmundig, vielleicht eine Art Selbstcharismatisierung, die allerdings – salopp ausgedrückt – viel auf den Löffel nimmt:
„Die Grundlage dafür ist eine umfassende Erneuerung unseres Landes. SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FREIE DEMOKRATEN sehen, dass Deutschland einen Aufbruch braucht. Wir fühlen uns gemeinsam dem Fortschritt verpflichtet. Uns eint, dass wir Chancen in der Veränderung sehen.“
Unweigerlich erinnert einen der Duktus an die Ruck-Rede des damaligen Bundespräsidenten Herzog oder vergleichbare Aufbruchsforderungen.
„Hier werden sie angekündigt. Doch, was soll eine „umfassende Erneuerung des Landes“ sein, hat das Land nicht etliche Aufbrüche hinter sich seit 1945? Und sind Aufbrüche nicht für eine Demokratie etwas Selbstverständliches? Also nur in diesem Sinne wäre eine Erneuerung kein technokratisches Vorhaben, denn das Land bleibt das Land, das es ist. Auch ist Veränderung nicht per se fortschrittlich, was also steht bevor?
Wir können einen Beitrag leisten, politische Frontstellungen aufzuweichen und neue politische Kreativität zu entfachen. So schaffen wir einen neuen gesellschaftlichen Aufbruch auf Höhe der Zeit. Als Fortschrittskoalition können wir die Weichen für ein Jahrzehnt der sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen, digitalen und gesellschaftlichen Erneuerung stellen.“
Einen „neuen gesellschaftlichen Aufbruch“ soll es geben, das heißt, es hat schon andere gegeben, es ist also selbstverständlich, aufzubrechen, um neue bzw. andere Wege zu gehen. Nun, es wäre denkbar, dass die Veränderungen größer als zu anderen Zeiten sein werden, sehen wir, was kommt.
Alles was über den Abschnitt Arbeitsbedingungen (Abschnitt 3, S. 4) geschrieben wird, ist im Allgemeinen wünschenswert unter dem Vorbehalt einer Konkretisierung. Es ist aber nicht, wie andere schon kommentiert haben so neu, wie behauptet wird, viele Schlagworte tauchten auch in anderen Programmen schon auf. Darüber hinaus zeigt sich in diesem Abschnitt wieder einmal, um wie viel hilfreicher es wäre, ganz einfach die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer so zu stärken, dass sie unabhängig von der Arbeitsmarktsituation, sei es im Allgemeinen, sie es branchenspezifisch, über Arbeitsbedingungen verhandeln könnten. Dann wären sowohl eine Sicherheit erreicht, die anders nicht erreichbar ist, als auch Möglichkeiten zur Flexibilisierung, ohne dass es dazu aufwendiger gesetzlicher Regelungen bedürfte (die es natürlich dennoch geben könnte). Man könnte auch sagen: Einfach die Bürger einmal machen lassen. Das wäre praktizierter „Respekt“, statt wohlfeiler Rhetorik, die irritieren muss, denn davon, dass dieser Respekt Bürgern entgegengebracht wird bzw. entgegenzubringen ist, sollten wir schlicht ausgehen. Im Folgeabschnitt geht es um den Sozialstaat:
„Wir wollen neue Wege gehen, so dass alle auch konkrete Chancen auf Teilhabe und berufliche Perspektiven haben und Lebensleistung anerkannt wird. Wir stehen für einen verlässlichen und aktivierenden Sozialstaat, der die Bürgerinnen und Bürger in den Stationen ihres Lebens unterstützt, Teilhabe ermöglicht, vor Armut schützt und Lebensrisiken absichert. Diese Zusage ist eine wichtige Basis dafür, Bürgerinnen und Bürger zu ermutigen, auch Neues zu wagen.“
Was ist daran neu, sind das nicht altbekannte Formeln? Was heißt denn, Lebensleistung anzuerkennen, kann das ein Sozialstaat überhaupt oder soll er nicht einfach, Einkommenssicherung verschaffen? Lebensleistung wird heute meist gleichgesetzt mit Beiträgen in die Systeme sozialer Sicherung, Leistung ist also Erwerbsleistung. Und die andere Seite des Lebens? Bleibt weitgehend außen vor. Beim Signalwort „aktivierender Sozialstaat“ lässt sich nicht vermeiden, an die Agenda 2010 zu denken, die Zeit, in der dieses Signalwort die Losung für schärfere Sanktionen, mehr Druck und noch stärkere Erwerbsorientierung stand, auch für die Verhöhnung derer, die wenig Einkommen haben. Damit nun genau soll zu neuen Ufern aufgebrochen werden? Selbst wenn die Bezugsbedingungen milder werden, bleibt doch die unangefochtene Vorrangstellung von Erwerbstätigkeit bestehen, was wir in den letzten 20 Jahren also gesehen haben, setzt sich fort.
„Die umlagefinanzierte Rente wollen wir durch die Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie die erwerbsbezogene und qualifizierte Einwanderung stärken.“
Liest man diese Passage, dann ist deutlich, was Aktivierung heißt: Erwerbsbeteiligung, und das angesichts einer schon sehr hohen Erwerbsbeteiligung von Männern ohnehin, von Frauen aber auch.
Über Familie heißt es dann:
„Gleichzeitig wollen wir Kitas und (Ganztags-)Schulen weiter fördern und Angebote der Bildung und Teilhabe stärken. Bund, Länder und Kommunen sollen gemeinsam darauf hinwirken, dass jedes Kind die gleiche Chance auf Entwicklung und Verwirklichung hat (Kooperationsgebot).“
„Entwicklung und Verwirklichung“ müsste, wenn man es ernst meinte, bedeuten, dass es Zeit für Familie gibt, wie einst der Achte Familienbericht übertitelt war, dessen Empfehlungen jedoch schon zu weniger Zeit für Familie führten – ganz wie im Sondierungspapier und ebenso im Neunten Familienbericht. Auch hier setzt sich fort, was die Sozialpolitik der letzten Jahre geprägt hat, das war schon im Wahlkampf der Grünen zu erkennen.
Zum Bürgergeld gibt es nur die folgenden Passage.
„Anstelle der bisherigen Grundsicherung (Hartz IV) werden wir ein Bürgergeld einführen. Das Bürgergeld soll die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein. Es soll Hilfen zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt in den Mittelpunkt stellen. Während der Corona-Krise galten großzügige Regelungen zu Schonvermögen und zur Überprüfung der Wohnungsgröße. Wir prüfen, welche dieser Regeln wir fortsetzen wollen. An Mitwirkungspflichten halten wir fest und prüfen, wie wir hier entbürokratisieren können. Die Zuverdienstmöglichkeiten wollen wir verbessern, mit dem Ziel, Anreize für Erwerbstätigkeit zu erhöhen.“
Dass der Begriff „Bürgergeld“ aufgegriffen wird, den die SPD gebrauchte, um vermeintlich Abschied von Hartz IV zu nehmen, der einen langen Weg hinter sich hat vom Kronberger Kreis, über Joachim Mitschkes Vorschlag für die FDP bis zu Dieter Althaus‘ Solidarisches Bürgergeld – zeigt eine gewisse Handschrift. Was soll sich ändern? Die Würde zu achten ist schon Aufgabe bestehender Leistungen – ganz gleich, ob man das für angemessen hält oder nicht. „Unkompliziert“ soll die Leistung erfolgen, das klingt immerhin gut, könnte die Zielgenauigkeit erhöhen, hängt entscheidend von der Ausgestaltung ab. Ziel ist und bleibt die „Rückkehr in den Arbeitsmarkt“ – damit wird am Erwerbsgebot nicht gerüttelt, anders als bei der Garantiesicherung, die die Grünen vorgeschlagen haben. Dass es weiterhin bedarfsgeprüfte Leistungen geben soll, wäre noch kein Hinweis auf die Fortschreibung des Erwerbsgebots, denn auch nach Einführung eines BGE bräuchte es solche Leistungen – allerdings unter anderen Voraussetzungen und eben ohne Erwerbsnorm. Das änderte den Charakter von Bedürftigkeitsprüfungen grundsätzlich. An „Mitwirkungspflichten“ soll festgehalten werden, was zur Folge hat, dass es weiterhin Sanktionsinstrumente geben muss – das haben viele Kommentare zum Sondierungspapier schon festgehalten. Worin liegt nun der Abschied von Hartz IV, ist er etwa so wie die Umbenennung von Arbeitslosen zu Kunden der Arbeitsagenturen, also rhetorisch?
Pflichtverletzungen müssen festgestellt und Sanktionen durchgesetzt werden – wie soll so eine Entbürokratisierung möglich sein? Die Stigmatisierung von Leistungsbeziehern wird sich also fortsetzen. Fehlen darf hier gegen Ende nicht, was zum Gemeinplatz in dieser Diskussion gehört, dass „Anreize“ zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu niedrig seien. Dieser Deutung folgt ebenso Florian Diekmann in seinem treffenden Kommentar zum Sondierungspapier auf Spiegel Online, der viele der fraglichen Punkte aufführt. An einer Stelle allerdings gibt es zu meinen Anmerkungen einen klaren Dissens, und zwar wenn es um die Armutsfalle geht, also um die vermeintlich geringen „Anreize“ (siehe auch hier), aufgrund des Transferentzugs den Bezug von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe zu verlassen. Das ist ein Mythos, wie die Untersuchungen zur Armutsfalle gezeigt haben, allerdings einer, der sich trotz seiner Weltfremdheit hält.
Sascha Liebermann