„Garantiertes Grundeinkommen und (Sozial-)Rechtsordnung“…

…ein Auszug aus einem Beitrag von Prof. Dr. Wolfgang Spellbrink auf der Website von Wolters Kluwer.

Der Autor ist ehemaliger Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht. Es überrascht angesichts dieser Expertise, welche Verkürzungen allein der Auszug enthält, vielleicht werden diese im Gesamtartikel wieder relativiert, das kann ich allerdings noch nicht beurteilen.

Stellvertretend für die Diskussion verweist der Autor zuerst auf zwei der medial mit am bekanntesten Befürworter, Richard David Precht und Götz W. Werner, Verweise auf Fachliteratur tauchen nicht auf, warum nicht? Precht ist auf einen fahrenden Zug aufgesprungen, den er zuvor noch in gewisser Weise belächelt hatte, Werner hingegen war ein Befürworter der ersten Stunde, zumindest der jüngeren Debatte seit 2004, und Unternehmer.

Spellbrink schreibt:

„Unabhängig von den Ausprägungen im Detail und den unterschiedlichsten normativen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen weisen alle Ansätze eines garantierten Grundeinkommens die folgenden Gemeinsamkeiten auf:“

Damit charakterisiert er also verallgemeinernd, was die Vorschläge auszeichnet, schauen wir es uns an:

„Jeder Bürger des Gemeinwesens erhält einen bestimmten Grundbetrag ausbezahlt, der grundsätzlich für alle Beteiligten gleich hoch ist. Manche Modelle differenzieren noch nach Altersgruppen (Kinder erhalten weniger; Senioren mehr) – manche wollen nur pro Bürger einmalig einen hohen Gesamtbetrag auszahlen – aber zumeist handelt es sich um eine regelmäßige/monatliche Zuwendung.“

Das ist soweit richtig, im zweiten Teil allerdings zählt er den Stakeholder Grant zum garantierten oder universellen bzw. bedingungslosen Grundeinkommen – das ist nicht richtig, wenn man sich an den Kriterien des Basic Income Earth Network orientiert. Auch der Sache nach sind die Unterschiede zwischen beiden deutlich.

„Da jeder Bürger in fast allen Modellen exakt den gleichen Betrag erhält, findet eine Berücksichtigung von spezifischen, individuellen Bedarfen gerade nicht statt. Menschen in Notlagen wie chronisch Kranke, behinderte Menschen etc. erhalten alle denselben Betrag.“

Da ein BGE nur dazu dient, einen Pauschalbedarf abzudecken, kann es keine Rücksicht auf individuelle Bedarfslagen nehmen. Daraus folgt jedoch nicht, dass es nicht weiterhin bedarfsgeprüfte Leistungen wird geben müssen [korrigiert 12.12.22, 13:46], wenn nicht entsprechende Personen mit solchen Bedarfen durch ein BGE schlechtergestellt werden sollten. Wie kommt Spellbrink darauf, dass es keine bedarfsgeprüften Leistungen mehr geben soll? Im Textauszug finden sich keine Quellen bis dahin – vielleicht in der Langfassung? Auch dann aber kann er sich nur auf ausgewählte Befürworter beziehen, keineswegs zeichnet ein BGE sich durch die vollständige Substitution bedarfsgeprüfter Leistungen aus. Götz W. Werner hat, bei allem Wechsel in seinen Äußerungen, in der Regel betont, dass ein BGE nur den Sockel bildet, über den hinaus Bedarfe noch gedeckt werden müssen.

„Werden bei der Höhe des Einkommens keine Differenzierungen nach Bedarf(en) vorgenommen, so wird andererseits die Auszahlung nicht davon abhängig gemacht, dass der Empfänger „bedürftig“ ist. Dies ist geradezu das Wesen des Grundeinkommens: Es ist „bedingungslos“. Weder spielt die Einkommens- und insbesondere die Vermögenslage des Einzelnen eine Rolle (auch der Einkommensmillionär oder Großgrundbesitzer erhält den Grundbetrag monatlich), noch kommt es auf die Unterstützung bzw. Unterhaltsansprüche gegen Familienmitglieder oder Ehegatten an. Jede (r) wird als Einzelne (r) gedacht, ohne dass er/sie sich Einkommen und Vermögen Dritter zurechnen lassen müsste.“

Auch das ist treffend, interessant ist allerdings die Anmerkung zur Vermögenslage, denn er hätte erwähnen können, dass heute jeder einen Anspruch auf den Grundfreibetrag in der Einkommensteuer hat und gerade hierin eine Besonderheit des bestehenden Systems liegt: im Grundfreibetrag wird zwischen den Ansprüchen gegen Familienmitglieder kein Unterschied gemacht, in der Grundsicherung für Arbeitsuchende hingegen ebenso wie in der Sozialhilfe. Man könnte also sagen, auf der einen Seite ist das Einkommen der Familienmitglieder egal, auf der anderen nicht – auf diese Ungleichheit weist er nicht hin.

Später heißt es dann:

„In meinem Beitrag in VSSAR, Heft 2/2022, habe ich mich ausschließlich mit dem garantierten Grundeinkommen beschäftigt und die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens mit der konkreten sozialrechtlichen Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland konfrontiert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die meisten Grundeinkommensmodelle das Sozialsystem insgesamt abschaffen und für alle Bürger einheitlich durch ein Grundeikommen ersetzen wollen. Dies unterscheidet das Grundeinkommen fundamental vom Bürgergeld, das bei Beibehaltung der gesamten Sozialversicherung (Rente, Pflege etc.) letztlich doch nach Fürsorgegrundsätzen gewährt werden wird.“

Welche meint er denn? Hier sollten in der Langfassung Quellen angegeben werden. Aus einem BGE folgt keineswegs die Abschaffung bedarfsgeprüfter Leistungen, auch wenn manche „Modelle“ das vorschlagen, das ist aber eine Schlussfolgerung, die diese Modelle ziehen, nicht eine, die vom BGE her naheliegt.

Dann folgt:

„Die bereits etablierte Sozialrechtsordnung und alle ihre Leistungen werden von den Befürwortern eines solchen, „ersetzenden“ Grundeinkommens weitgehend ignoriert bzw. wie bei Richard David Precht und Götz Werner sogar diskreditiert. So wird verkannt, dass bereits jetzt ein menschenwürdiges, soziokulturelles Existenzminimum verfassungsrechtlich garantiert ist, das die geforderten Grundeinkommensbeträge übersteigt.“

Auch hier würde man sich Quellen wünschen, wo das genau gesagt wird, denn für Werner gilt das nicht, aber gut, einmal eingeführt scheint das ein Selbstläufer zu sein.

„Das durch den Sozialstaat gewährleistete Sicherungsniveau bei sozialen Risiken wie Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Behinderung und Alter wird durch ein Grundeinkommen nicht erreicht, so dass dieses zu »Sozialabbau« führt. Insbesondere die Bedeutung und die finanzielle Struktur der gesetzlichen Krankenversicherung werden von allen Grundeinkommensmodellen systematisch ausgeblendet und teilweise zynisch kommentiert. Da die bisher erworbenen Rechtspositionen verfassungsrechtlich geschützt sind, müssten zudem, trotz des Wunsches nach einem radikalen Bruch, noch für lange Zeit Altansprüche erfüllt werden.“

Das ist in der Diskussion doch bekannt und keine Neuigkeit, die der Autor hier gerade entdeckt zu haben meint. Gleichwohl muss man sich fragen, welche Leistungen durch ein BGE ersetzt werden könnten, inwiefern das Gesundheitswesen anders finanziert werden könnte, ohne den Gedanken der Grundversorgung aufzugeben. Vieles hängt von der Betragshöhe eines BGE ab und Werner hat in seinem letzten Buch, der vollkommen überarbeiteten Fassung von Einkommen für alle das wieder betont. Was Spellbrink sagt, ist also keineswegs neu in der Diskussion.

Interessant ist noch diese Passage aus dem Auszug:

„Im Vergleich zu den bestehenden Grundsicherungsansprüchen wird die Rechtsstellung des Grundeinkommensbeziehers insgesamt schwächer, steht die Höhe des zu zahlenden Grundbetrags doch im Belieben des jeweils wechselnden Gesetzgebers. Durch den Verzicht auf jede Bedürftigkeitsprüfung schafft ein bedingungsloses Grundeinkommen zudem eine Gesellschaft der Einzelnen, die in keinerlei familiären oder sonstigen Zurechnungsgemeinschaften mehr stehen. Die Auswirkungen auf Familien- und Unterhaltsrecht werden nicht reflektiert, ebenso wenig wie die ausländerrechtliche Problematik der Bezugsberechtigung.“

Entscheidet nicht der Gesetzgeber auch über die Leistungen im Sozialgesetzbuch – unter anderem mittels der Berechnungsmodelle, die eingesetzt werden? Wäre das wirklich anders beim BGE? Das scheint mir nicht plausibel. Ein BGE schaffe also eine „Gesellschaft der Einzelnen“ – also gemeinschaftslose Einzelne wohlgemerkt, ja, gibt es denn mit einem BGE keine politische Gemeinschaft der Staatsbürger mehr, die füreinander einstehen müssen? Spellbrink meint wohl die kleinen Gemeinschaften, die einer bestimmten Auslegung des Subsidiaritätsgedankens folgend, füreinander sorgen sollen. Das werden sie auch zukünftig, und zwar ganz praktisch, aber mit dem BGE als Rückendeckung. Sogar das Unterhaltsrecht zumindest in Gestalt der Frage, welche Auswirkungen ein BGE auf Unterhaltsleistungen hätte, wurde durchaus schon bedacht, das mag Spellbrink noch nicht aufgefallen sein. Über die rechtliche Ausgestaltung sich Gedanken zu machen, dafür gibt es doch die entsprechende Expertise.

Auf die Langfassung des Beitrags kann man also gespannt sein, sie muss einige Differenzierungen enthalten oder vielleicht kann man angesichts der Verkürzungen, die schon der Auszug bietet, sie sich auch sparen.

Sascha Liebermann