„Hallo, CDU, ich war arbeitslos“ – über das Spannungsverhältnis zwischen legitimem Leistungsbezug und unerwünschtem Zustand…

…spricht Alexandra Pichl, Landesvorsitzende der Grünen in Brandenburg, im Interview auf Zeit Online. Auszüge seien hier kommentiert:

„Alexandra Pichl: Ja, Arbeitslose geben sich ungern zu erkennen. Meine Erfahrung ist, dass man sich sogar vor Freunden und Bekannten damit versteckt. Nehmen Sie die typische Und-was-machst-du-so-Frage: Als Arbeitslose erzählt man dann vom früheren Job, vielleicht mit dem Zusatz, man sei gerade auf der Suche nach etwas Neuem.“

Pichl weist hier auf den Stigmatisierungseffekt hin, der von der Erwerbsnorm ausgeht, ein struktureller Effekt, der mit der von Pichl erwähnten Antwort zu entschärfen versucht wird. Es ist also nicht die Erwerbslosigkeit als solche, durch den er entsteht, es ist die Bewertung der Erwerbslosigkeit als unerwünschter Zustand, der sie zu einer Stigmatisierung werden lässt. Insofern ist die immer wieder diagnostizierte, aber doch nur vermeintliche Lösung die Erwerbsteilnahme. Sie hebt aber die Erwerbsnorm nicht auf, die Stigmatisierung wirkt als Drohung dafür fort, was geschieht, wenn man erwerbslos wird. Sehr deutlich legt sie in der folgenden Passage dar, was diese Situation auszeichnet:

„ZEIT: Sie sagten beim Parteitag, Sie seien traumatisiert. Können Sie erklären, wovon genau?

Pichl: Bei mir lag es nicht an den Sachbearbeitern. Die waren sehr bemüht, vielleicht hatte ich Glück. Aber es kommt dennoch vieles zusammen. Erst mal ist da die Scham der Gesellschaft gegenüber. Man liegt anderen auf der Tasche, man leistet nichts. Solche Gedanken werden einem zeitlebens vermittelt. Und man ist knapp bei Kasse. Das Arbeitslosengeld beträgt 60 bis 67 Prozent des Einkommens. Weil ich zuvor Elterngeld bezogen hatte, also ohnehin ein reduziertes Einkommen, blieb mir nicht viel. Man hört auf, sich mit Freunden zu treffen, mal essen zu gehen oder sonst wie am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Weil man es sich schlicht nicht leisten kann. Man zieht sich zurück. Und dann geht man als Bittstellerin zur Arbeitsagentur. Ich hatte permanent Angst, etwas falsch zu machen. Habe ich mich auf genügend Stellen beworben? Habe ich zu viel hinzuverdient? Habe ich vergessen, etwas anzugeben? Ich erwische mich heute noch bei dem Gedanken, ob ich damals vielleicht ein Formular falsch ausgefüllt habe.“

Auch wenn nachvollziehbar ist, weshalb sich Frau Pichl als Bittstellerin fühlte, so ist sie doch keine, denn sie hat einen Rechtsanspruch geltend gemacht (siehe hier), der durch die Gemeinschaft geschaffen wurde. Damit erkennt sie zum einen an, dass der Betreffende Ersatzeinkommen benötigt und darauf einen legitimen Anspruch geltend machen kann, zugleich aber lehren ihn die Bezugsbedingungen, dass er den Anspruch nur vorübergehend geltend machen sollte, denn letztlich ist es ein unerwünschter Zustand, in dem er sich befindet. So bemüht dann die Sachbearbeiter sind oder sein mögen, so sehr vertreten sie jedoch die Rechtslage mit all den Begründungsverpflichtungen, die den Leistungsbeziehern aufgeladen wird. Es ist also eine Spannung zwischen einem legitimen durch Recht abgesicherten Anspruch, den man erhobenen Hauptes geltend machen kann und der Deutung dieses Anspruchs durch die Bezugsbedingungen, die im Gesetz formuliert sind, als etwas, das es zu überwinden gilt.

Es ist nicht nur die Stigmatisierung, die aus der Erwerbsnorm folgt, es ist auch die Degradierung und normative Herabsetzung aller anderen, nicht erwerbsförmigen Leistungen, die stets nur second best sind, aber keinesfalls die Erwerbsteilnahme ersetzen können. Wer das ändern will, muss die Erwerbsnorm aufheben, das geht nur mit einer Einkommenssicherung, die keine bestimmte Tätigkeit als wünschenswert definiert, sondern lediglich die Zugehörigkeit der Person zur Voraussetzung macht.

Sascha Liebermann