Mündigkeit durch Erwerbsarbeit?

In einem Interview mit Axel Honneth auf Zeit Online (Bezahlschranke) äußert er sich dazu, weshalb er gegen ein Bedingungsloses Grundeinkommen sei, aber auch zum Verhältnis von Erwerbsarbeit und Mündigkeit. Beide Passagen seien hier kommentiert, zu früheren Ausführungen Honneths siehe hier und hier.

„ZEIT ONLINE: Wenn der Mensch Sicherheit und mehr Zeit braucht, um sich zu engagieren, warum sind Sie trotzdem gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Honneth: Das Grundeinkommen [sic] aus meiner Sicht ein Mittel zur weiteren Privatisierung des Menschen. Der Einzelne würde sich wahrscheinlich nur noch als Empfänger einer staatlichen Zuwendung verstehen und sich immer weiter aus der sozialen Kooperation ausklinken. Das Grundeinkommen garantiert in keiner Weise, dass das Interesse des Einzelnen an sozialen und politischen Zusammenhängen zunimmt. Ich denke eher, dass es das Gegenteil bewirkt und zu einem immer stärkeren Rückzug in die eigene kleine Welt führt, die aus Gleichgesinnten besteht. Daher verstehe ich auch nicht, woher der Glaube kommt, dass sich durch das Grundeinkommen mehr Menschen politisch engagieren würden. Wenn die Privatisierung zunimmt, erlischt vielmehr die Triebfeder demokratischen Engagements.“

Wie gelangt Honneth zur ersten Schlussfolgerung? Woraus schließt er auf eine „weitere[…] Privatisierung des Menschen“, weshalb sollte er sich aus der „sozialen Kooperation“ weiter ausklinken? Da er das komparativisch formuliert, müsste es heute schon Tendenzen in diese Richtung geben, woraus schließt er das? Darüber erfahren wir nichts, obwohl es sich um weitreichende Behauptungen handelt. Seine Überlegungen sind insofern nicht ungewöhnlich, als manche Befürworter, wie z. B. Thomas Straubhaar, ein BGE tatsächlich ähnlich begründet haben, wenn sie es als individualistisches Projekt bezeichneten. Doch Straubhaar zielte mit dieser Äußerung darauf, dass ein BGE nicht mehr an Wohlverhalten gebunden sei, es also eher um die Stärkung der Freiräume für das Individuum geht, denn darum, sich auszuklinken. Straubhaar vertraut darauf, dass die Bürger diese Freiräume nach ihrem Dafürhalten nutzen würden – wie sie es heute ja auch schon tun. Wenn ein BGE eine Einkommenssicherung ist, die das Gemeinwesen der Bürger seinen Angehörigen bereitstellt, damit sie freier entscheiden können, dann bedeutet das mehr finanzielle „Sicherheit“ und mehr „Zeit“, um „sich zu engagieren“ bzw. sich engagieren zu können. In der Tat müssen sie es nicht und es kann gute Gründe dafür geben, sich nicht zu engagieren, sondern sich um sich selbst zu kümmern. Eine Privatisierung folgte daraus keineswegs und schon gar nicht zwingend, eher signalisiert die Gemeinschaft doch, dass sie sich darüber im Klaren ist, diese Entscheidung klar ihren Bürgern überlassen zu wollen und zu müssen. Zugleich aber können diese nur freier entscheiden, weil die Gemeinschaft ein BGE bereitstellt, so dass deutlich wird, wie sehr diese Freiräume davon abhängen, dass sie gemeinschaftlich unterstützt werden. Ein BGE macht diese Abhängigkeit sicht- und erfahrbar. Heute engagieren sich viele im bürgerschaftlichen Engagement trotz der ungünstigen Bedingungen dafür, die Bereitschaft ist also groß. Selbst die Leistungsbereitschaft im Erwerbsleben resultiert grundsätzlich daraus, einer Sache dienen zu wollen, Lösungen für ein Handlungsproblem zu entwerfen und zu entwickeln. Auch dahinter steht eine Bindung an das Gemeinwesen und dessen Verständnis von Leistung, die sich sozialisatorisch herausbildet. Warum sollte dies durch ein BGE abnehmen, wenn es doch vielmehr die Möglichkeiten für Leistung verbessert, das Leistungsverständnis pluralisiert und die Abhängigkeit von einem Erwerbsverhältnis reduziert?

Honneth ist einschränkungslos zuzustimmen, wenn er sagt, das BGE garantiere nicht, dass das Interesse „an sozialen und politischen Zusammenhängen“ zunehmen werde, auch wenn das manche Befürworter vertreten und erhoffen – nur ist das auch heute nicht garantiert und kann gar nicht garantiert werden. Wir müssten die Frage doch herumdrehen: Wenn es nicht garantiert werden kann, woher rührt die Bereitschaft dann heute, ganz ohne BGE?

Das „Interesse“ erwächst im Zuge der Sozialisation, die in der Adoleszenz die Frage zu beantworten fordert, wo der Einzelne sich verortet und was er mit seinem Leben in dem konkreten Gemeinwesen, in dem er aufwächst, vorhat. Diese Frage wird beantwortet durch die Auseinandersetzung mit den in einem Gemeinwesen geltenden Normen und dem dort vorherrschenden Selbstverständnis. Das ist der Boden, auf dem eine Gemeinwohlbindung entsteht und die stets wieder befestigt und bekräftigt werden muss durch öffentliche Willensbildung auf der einen, angemessene Entscheidungen für Probleme, vor denen ein Gemeinwesen steht, auf der anderen Seite. Sie hängt aber nicht von Erwerbsteilnahme ab, die Lebendigkeit eines demokratischen Gemeinwesens kann sich aber bis ins Erwerbsverhältnis hinein artikulieren, wie es z. B. am Arbeitsrecht erkennbar ist.

Ein Rückzug in die Welt der „Gleichgesinnten“, den Honneth befürchtet, ist nicht zu verhindern, wenn die Bürger sich denn zurückziehen wollen. Allerdings wäre hier die Frage zu stellen, inwiefern ein solcher Rückzug gar nichts mit einem BGE, viel aber mit einer sinkenden Gemeinwohlbindung zu tun hat, weil das Vertrauen in die Demokratie verloren gegangen ist. Dann wäre die Frage, woher rührt sie, weshalb ist Vertrauen in Institutionen und Verfahren verloren gegangen. Honneth konstruiert den Gegensatz zwischen Privatisierung und Engagement, den er als Problem sieht, ohne ihn plausibel machen zu können, denn Auseinandersetzung mit Andersgesinnten, um es einmal so auszudrücken, kann man vielerorts führen.

Nun zur anderen Frage nach der Mündigkeit:

„ZEIT ONLINE: Verlernen wir im Homeoffice also die Demokratie?

Honneth: Zugespitzt gesagt, ja. Denn wer sich nicht mehr so oft mit anderen absprechen muss, erfährt auch weniger über andere Lebensweisen, und damit verliert man tendenziell auch das Verständnis dafür, weshalb man sich um die Nöte anderer kümmern soll. Je geringer der persönliche Austausch unter den Bürgerinnen und Bürgern, desto geringer auch ihr Interesse füreinander – und das wiederum ist eine Quelle des demokratischen Denkens.“

Auch diese Ausführungen überraschen. Im Homeoffice fehlen zwar die Begegnungen auf dem Flur einer Organisation, in der Kaffee-Küche und der Kantine, man ist aber nicht isoliert und hat Besprechungen, muss Aufgaben oder Prozesse koordinieren, wodurch man mit anderen „Lebensweisen“, sofern sie sich in Kollegialbeziehungen Ausdruck verschaffen, konfrontiert wird. Richtig ist, man muss auf die Kollegen zugehen und Gesprächsgelegenheiten schaffen, die sich nicht einfach auf dem Flur ergeben. Dafür erlaubt das Homeoffice viel besser, Haushaltsaufgaben mit Berufsaufgaben zu koordinieren, auch sieht man die Kollisionen beider im Alltag deutlicher, als es die illusorische Formel der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ suggeriert. Honneth zeichnet ein Zerrbild, das in der Form für jeden Außendienst in den Zeiten vor mobiler Kommunikation gegolten haben müsste. Waren diese Mitarbeiter weniger mündig? Überschätzt er nicht den Anteil des Austauschs über „Lebensweisen“, denn am Arbeitsplatz steht das Kollegialverhältnis im Zentrum, es sollte dabei vornehmlich um Aufgaben gehen, die mit der Organisation und ihren Zwecken zu tun hat, es sei denn die Integrität der Person, ihre Würde, wird angegriffen. Interessen als Mitarbeiter wahrzunehmen, auch Bereichsinteressen, für die man an Besprechungen teilnimmt, streift nur am Rande andere „Lebensweisen“. Wie Honneth diese Seite hier überhöht, so unterschätzt er sie in all den anderen Zusammenhängen der Begegnung, in Vereinen, im Freiwilligenengagement, vermittelt über den Kindergarten und die Schule, die Eltern vor Augen führen, vor welchen Herausforderungen andere Familien stehen und vielfältigen Austausch ermöglichen. Vereine sind auch weniger homogen, als Honneth meint. Mit dem größten Teil der Bürger tauscht der Einzelne sich persönlich ohnehin nie aus, sie bleiben ihm insofern fremd, sind aber eben Bürger desselben Landes und damit Gleichrangige. Honneth zeichnet ein geradezu mechanistisches Bild davon, sich Gedanken über andere zu machen, als sei das dadurch schon gegeben, dass man ihnen begegnet. Eine solche Begegnung kann ebenso an einem spurlos vorübergehen, weil man sich für diese „anderen Lebensweisen“ gar nicht interessiert, obwohl sie einem direkt vor der Nase stehen. Wo Aufgeschlossenheit fehlt, bleiben Begegnungen folgenlos.

Die nachfolgende Passage folgt direkt auf die gerade kommentierte:

„ZEIT ONLINE: Umgekehrt heißt das ja, dass Arbeit den Menschen mündig macht.

Honneth: Ich würde es vorsichtiger ausdrücken: Sie kann, wenn sie fair organisiert ist, zur demokratischen Mündigkeit verhelfen. Demokratie fängt mit der Erziehung an, etwa wenn Kinder dazu ermutigt werden, ihre Meinungen zu äußern und die der anderen zu respektieren. Das geht in der Schule weiter, wo Jugendliche zu zukünftigen Bürgerinnen und Bürgern erzogen werden, indem sie Mitbestimmung erlernen. Und das kann und sollte sich eigentlich in der Arbeitswelt dadurch fortsetzen, dass die Beschäftigten über das Ziel und die Organisation ihrer Arbeit mitbestimmen dürfen. Das ist aber kaum der Fall, meistens ist die Arbeit ganz anders organisiert, entlang von hierarchischen Anweisungsketten und ohne jede Mitbestimmung – so wird man im Job zum Untertan.“

Honneth drückt sich hier zwar vorsichtiger aus, angesichts seiner vorangehenden Ausführungen müsste er indes Mündigkeit direkt an Erwerbsteilnahme binden, denn nur sie eröffne den Blick über die Welt mit Gleichgesinnten hinaus. Von diesem Blick lebt die Demokratie, Problemlagen vor dem Hintergrund eines Gemeinwesens und seines Gerechtigkeitsentwurfs zu betrachten. Ist aber Mündigkeit nicht vielmehr eine Haltung zur Wirklichkeit? Bildet sie sich nicht grundständig im Zuge der Sozialisation heraus und liegt erst mit gelingender Bewältigung der Adoleszenzkrise vor – Andeutungen in diese Richtung lässt Honneth erkennen? Dann kann Erwerbsteilnahme den Erfahrungsschatz anreichern, ist aber nicht konstitutiv für Mündigkeit. Mündigkeit ist nicht eine Frage inhaltsbezogener Expertise, sondern eine Haltung zur Notwendigkeit, Entscheidungen treffen und diese in ihren Konsequenzen verantworten zu müssen, seien es die eigene, seien es andere Personen betreffende. Entscheidungen treffen und verantworten zu können ist das eine, Rechte der Mitgestaltung zu haben, ist das andere. Die Grundrechte ruhen ja gerade auf der vorausgesetzten und nicht vom Staat herbeiführbaren Mündigkeit der Bürger und bestärken sie zugleich.

Was Honneth über die „hierarchischen Anweisungsketten“ schreibt, bietet doch nur einen sehr schematischen Blick auf Erwerbsverhältnisse. In der Tat gibt es Hierarchien in Organisationen, die daraus resultieren, dass Diskussionen über Ziele und Mittel zu ihrer Erreichung in Entscheidungen münden müssen, wenn gestaltet werden soll. Doch Erwerbsverhältnisse sind nur so produktiv, wie die Mitarbeiter bereit sind, sich einzubringen, das galt schon in der Montanindustrie, in der die Kollegialgruppe die Arbeitsgeschwindigkeit und den Elan definierte, mit denen ans Werk gegangen wurde. Machtverhältnisse liegen nicht nur vor, wo es formal eingerichtete Machtpositionen gibt, sondern dort, wo sich Interessen organisieren und ihre Macht einsetzen, weil sie Arbeitsprozesse aufhalten, bremsen oder umlenken können.

Sascha Liebermann