„Totalverweigerer sind sehr selten“…

…so ist ein Beitrag von Oliver Bock in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung überschrieben (Rhein-Main/ Wiesbaden). Nun liefert er zwar keine überraschenden Einsichten, ist aber doch angesichts der Gerüchte und teils gegenläufigen Stimmen selbst aus den Jobcentern informativ. „Wird ein schärferes Vorgehen gegen tatsächlich oder vermeintlich arbeitsunwillige Bürgergeldempfänger den deutschen Sozialetat spürbar entlasten? Im Sozialleistungs- und Jobcenter der Landeshauptstadt Wiesbaden ist die Skepsis groß. Zwar werden gegen eine kleine Zahl der „Kunden“ regelmäßig Sanktionen verhängt. Doch meist geht es dabei um geringe Versäumnisse bei der Einhaltung von Terminen, aber ganz selten um Pflichtverweigerung. Sogenannte Totalverweigerer seien die sehr seltene Ausnahme, heißt es.“

Wie schon früher durch Statistiken der Bundesagentur für Arbeit ausgewiesen wurde, handelt es sich bei einem großen Teil der Sanktionen um Terminversäumnisse (siehe hier und hier), wie auch die untenstehende Grafik zeigt. Das im Beitrag überhaupt von „Totalverweigerern“ ohne Anführungszeichen gesprochen wird, erstaunt, denn es ist kein Terminus des Gesetzgebers, weckt aber bestimmte Assoziationen. Selbst bei denen, die sich also verweigern, wäre genau hinzuschauen, um die Gründe zu kennen, dann stellt sich womöglich heraus, dass es bei der „Verweigerung“ um etwas anderes geht.

„In jedem Jahr gelingt es Wiesbaden, etwa jeden fünften in der Landeshauptstadt gemeldeten Langzeitarbeitslosen in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu vermitteln oder beim Sprung in die Selbständigkeit zu helfen. Rund zwei Drittel dieser „Kunden“ des Jobcenters halten länger als ein Jahr durch. Jeder Dritte ist dann wieder auf Sozialleistungen angewiesen.“

Diese Schilderung der Erfahrung der Jobcenter zeigt, was in der Debatte häufig übersehen, ignoriert oder gar geleugnet wird. Auch hierzu gibt es ja schon länger Forschung, die auf der Basis nicht-standardisierter Forschungsgespräche (Interviews) herauszufinden versucht, wie die Problemlagen konkret aussehen und welche Genese sie haben. Das hat dann eben nichts gemein mit Slogans, die behaupten, die Angebote müssen nur verbessert oder die Bildungsanstrengungen verstärkt werden, siehe hierfür unsere Beiträge zur „Armutsfalle“ und zu „Anreizen“.

„Vor 20 Jahren hatte sich Wiesbaden entschieden, im Zuge der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe eine von 16 hessischen Optionskommunen zu werden und die Betreuung derjenigen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, in Eigenregie zu übernehmen. […] ‚Das war die richtige Entscheidung‘, sagt Becher und verweist auf die Vorteile kommunaler Netzwerke und Kooperationen, kurzer Wege, hoher Flexibilität und der Verzahnung mit sozialen Trägern in der Stadt. Das Ziel sei unverändert, ‚passgenaue Wege‘ für die ‚Kunden‘ aus der Arbeitslosigkeit zu finden. Das ist aber nur in Abhängigkeit vom lokalen Arbeitsmarkt möglich. Und dieser hat in Wiesbaden die Besonderheit und Erschwernis, dass es vergleichsweise wenige Stellen für Ungelernte gibt.“

Also näher an denen sein, die beraten werden, möglichst genau herauszufinden, was zu ihnen passt und was nicht, aber immer mit dem Ziel: Rückkehr in den Arbeitsmarkt. Das ist angesichts der Gesetzeslage unverrückbar, aber womöglich nicht der richtige Weg für diejenigen, die für den Arbeitsmarkt nicht geeignet sind. Um aus diesem Hamsterrad herauszukommen, bedürfte es einer Absicherung, die breiter greift und die Rückkehr in den Arbeitsmarkt nicht als fortwährendes Ziel begreift. Das geht nur mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen.

Auch interessant ist diese Einschätzung:

„Dass es nicht gelingt, mehr Ukrainer in Arbeit zu bringen, begründet Jobcenter-Leiterin Ariane Würzberger mit den hohen Anforderungen in Deutschland an die Berufseignung und den Hürden bei der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Auch die Sprache sei ein großes Hindernis, weil deutsche Arbeitgeber großen Wert auf deutsche Sprachkenntnisse legten. Sie seien nicht flexibel genug, um auch mit Englisch klarzukommen. Die Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt ist ein mühsames Geschäft. Drei Viertel der Bürgergeldbezieher sind schon länger als vier Jahre ohne Job. Gelingt die Rückkehr ins Erwerbsleben, ist das Einkommen nur in gut einem Drittel der Fälle hoch genug, um damit den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Das Fazit: Es gibt eine ‚verfestigte Gruppe, die dauerhaft oder immer in prekärer finanzieller Situation lebt und schon viele Jahre Grundsicherungsleistungen bezieht.'“

„Verfestigte Gruppe“ – das ist statistisch betrachtet oder vielleicht vor dem Hintergrund des festgeschriebenen Ziels der Rückkehr in den Arbeitsmarkt. Wenn es dieses Ziel aber gar nicht gäbe, gäbe es andere Möglichkeiten der Beratung und auch andere Ziele. Die gesamte Debatte müsste und könnte ganz anders geführt werden.

Zum Abschluss:

„Drei Viertel sind indes Langzeitarbeitslose, von denen wiederum drei Viertel keine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen können. Wegen ihrer Versäumnisse und Pflichtverletzungen bei der Arbeitsvermittlung fallen nur jährlich ein bis sechs Prozent der ‚Kunden‘ beim Jobcenter negativ auf und geraten in Gefahr, sanktioniert zu werden.

Die Totalverweigerer seien unter diesen die seltene Ausnahme. In 85 Prozent der Fälle gehe es um Unpünktlichkeit und Fristversäumnisse. Dabei ist der Blickwinkel von Jobcenter und Arbeitgeber naturgemäß unterschiedlich. Wenn ein ehedem Langzeitarbeitsloser an vier von fünf Tagen pünktlich erscheint, dann ist das aus Sicht der Fallmanager schon ein Erfolg. Aus Sicht der Arbeitgeber aber kann das schon untragbar sein.“

Damit ist alles gesagt und die Alternativen stehen einem vor Augen – wenn man sie sehen und haben will.

Sascha Liebermann