…so zumindest erscheint der Beitrag von Henrike Roßbach in der Süddeutschen Zeitung. Wer das ernst meint, braucht über Würde nicht mehr nachzudenken.
Sie beginnt hiermit:
„Wenn er erklären will, was Arbeit mit einem Menschen macht, oder eher, was es mit einem Menschen macht, wenn er keine Arbeit hat, dann erzählt Thomas Lenz von dem Mann vom Marktplatz. Zwei Flaschen Schnaps habe der jeden Tag getrunken, und herumgesessen, mitten in Wuppertal. Bis er eines Tages mitarbeiten durfte beim Bau der Wuppertaler Nordbahntrasse, einem 23 Kilometer langen Wander- und Radweg entlang der ehemaligen rheinischen Eisenbahnstrecke. „Den mussten wir bremsen, der war auch samstags auf der Strecke“, sagt Lenz, der das Wuppertaler Jobcenter leitet. Trocken sei der Mann zwar auch damals nicht gewesen, während der Arbeitszeit aber habe er zuverlässig funktioniert und nicht getrunken. Mit ein paar Tricks konnten sie ihn anderthalb Jahre in dem Projekt halten, länger als üblich. Mehr ging nicht. „Heute ist er tot“, sagt Lenz. „Totgesoffen“.“
Die heilende Kraft der Erwerbsarbeit? Das Beispiel taugt dafür in verschiedener Hinsicht offenbar nicht, wie der Leiter des Wuppertaler Jobcenters selbst einräumt. Dass der Mitarbeiter „funktioniert“ habe, änderte an seinem Leiden nichts. Wozu soll das Beispiel also dienen? Soll es illustrieren, was es hießt, ohne Erwerbstätigkeit leben zu müssen? Dazu hätte derjenige, der hier als Beispiel angeführt wird, einmal befragt werden müssen, woran er denn wirklich leidet, was der Grund für seinen Suchtzustand ist – wenn er das denn selbst hätte sagen können. Geretten hat ihn die Erwerbsarbeit ja nicht. Was ist nun wohl von dem Beitrag zu erwarten? Ein Loblied auf den Sinn von Erwerbstätigkeit? Es wäre gut, wenn die Idolatrie der Erwerbstätigkeit einmal dargelegt würde, die dazu führt, dass alle, die ihr nicht dienen, als Versager erscheinen, weil sie einem Gebot nicht folgen – dem Erwerbsgebot.
In der Folge des Beitrags geht es um den Vorschlag eines „solidarischen Grundeinkommens“, den sozialen Arbeitsmarkt und „was geschehen soll mit jenen, die kaum Chancen haben auf einen normalen Job“. Als seien diejenigen, um die es geht, Möbel, die ausrangiert oder umplatziert werden müssten (siehe auch hier).
Was sagt der Leiter des Jobcenter Bautzen (Sachsen), der ebenfalls zitiert wird, zur Lage der Langzeitarbeitslosen?
„Mathias Bielich leitet seit 2013 das Jobcenter Bautzen in Sachsen. Wenn der freie Arbeitsmarkt nicht erreichbar sei, sagt er, müsse es um eine sinnstiftende Beschäftigung gehen und darum, die Würde zu sichern. Die Arbeitslosigkeit im Landkreis Bautzen liegt mit 6,1 Prozent unter der ostdeutschen, aber über dem gesamtdeutschen Durchschnitt. Für knapp 6300 arbeitslose Hartz-IV-Empfänger sind Bielich und seine Leute zuständig, gut 15 Prozent weniger als vor einem Jahr. „Jede Akte hat ein Gesicht“, sagt Bielich, das sei ihre Losung. Er spricht von Ansehen, Wertgefühl und strukturierten Tagen und davon, dass „bezahltes Zuhausebleiben“ niemandem nutze. „Wir haben viele, die sehr weit weg sind vom Arbeitsmarkt, und wir dürfen diese Leute nicht alleine lassen.“ Einem sozialen Arbeitsmarkt, wie von der großen Koalition geplant ist, kann er manches abgewinnen. Bisher sei es meist darum gegangen, in einem halben Jahr ein paar Vermittlungshemmnisse aus dem Weg zu räumen. „Aber das gelingt nicht immer.“ Notwendig seien langfristige Programme – und Geld, um die Betroffenen intensiv zu begleiten.“
Die „Würde“ sichern, „sinnstiftende“ Beschäftigung – was ist das Kriterium dafür? Würde durch Arbeit oder Würde der Person ohne Bezug auf Leistung (siehe hier und hier)? Würde ist ein vorstaatlicher Begriff, Würde ist mit der Person verbunden, mit Selbstbestimmung und Anerkennung, nicht aber mit einer Verpflichtung zur Gegenleistung. Wer es damit also ernst meint, muss eine Form finden, die Selbstbestimmung ebenso stärkt wie die Bedeutung des Einzelnen um seiner selbst willen – das leistet bislang nur ein Bedingungsloses Grundeinkommen, weil nur es die Verknüpfung von Einkommen und Erwerbsgebot aufhebt. Bielich entwirft den Gegensatz zwischen Beschäftigung und bezahltem Zuhausesein, um die Bedeutung der Beschäftigungsprogramme zu retten. Dass sich heute jemand zuhause verkriechen mag der stigmatisierenden Effekte der Leistungen wegen ist doch nicht verwunderlich, dass dies aber nicht der Fall wäre, wenn die stigmatisierenden Seite aufgehoben wäre, sieht Bielich, wie so viele nicht. Dabei müsste er als erfahrener Praktiker das sehen können, wie z. B. Uwe Temme im Video unten, der einst das Sozialressort in Wuppertal leitete. Betroffene intensiv begleiten? Ja, wenn sie es wünschen, wenn es ein Angebot wäre, aber als Beaufsichtigung mit drohender Leistungskürzung oder gar Leistungsentzug für den Fall, dass nicht gefolgt wird? Das führt in die Sackgasse, in der wir diesbezüglich heute stecken. Würde durch Anerkennung ist so nicht zu erreichen – nicht endende Stigmatisierung schon.
Eine weitere Stimme wird herbeigerufen:
„Lenz vom Jobcenter Wuppertal sieht es ähnlich. Viel zu lange sei an der „Lebenslüge“ festgehalten worden, es müsse nur das richtige Arbeitsmarktprogramm erfunden werden, um alle im ersten Arbeitsmarkt unterzukriegen. Das aber sei unmöglich, es blieben immer welche übrig.“
Eben, wenigstens hier Klartext. Wie aber sieht eine Antwort auf diese Problemlage aus, die Würde ernst nimmt?
„Ein zweiter Arbeitsmarkt ist dennoch umstritten. Die Arbeitgeber etwa warnen vor „künstlicher Beschäftigung“ in Zeiten des Arbeitskräftemangels. Zudem wirken die gescheiterten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Vergangenheit bis heute abschreckend. Morgens eine unnütze Mauer bauen und sie abends wieder abreißen, das hält niemand für sinnvoll. Auf der anderen Seite aber zeigen Praktiker wie Lenz und Bielich, dass manches möglich ist, selbst mit schon bestehenden Programmen.“
Um den genannten Preis ist „manches möglich“. Sogleich folgt ein Beispiel:
„Im strukturwandelgeplagten Wuppertal – 8,8 Prozent Arbeitslose, 11 500 arbeitslose Hartz-IV-Empfänger – haben rund 1000 Langzeitarbeitslose über Jahre hinweg die Nordbahntrasse mitgebaut. Auch das Stadion wurde mit Hilfe von Langzeitarbeitslosen saniert („Sie glauben nicht, was die Leute stolz waren, als sie bei der Einweihung ihren Namen auf der Anzeigetafel lasen“). Straffällig gewordene Jugendliche setzten die historischen Geländer entlang der Wupper in Stand und machten dabei eine Maler- und Lackiererausbildung, zur Freude der Handwerksbetriebe. Langzeitarbeitslose und geflüchtete Frauen arbeiten in Schulen als Gesundheitsassistentinnen, es gibt Arbeit bei der Tafel, selbst Drogenkranke säubern Spielplätze. „Wir konzentrieren uns nicht nur auf die stärksten zehn Prozent unter unseren Arbeitslosen“, sagt Jobcenterchef Lenz, dessen Haus die höchste Aktivierungsquote Deutschlands vorzuweisen hat. Nirgendwo sonst bekommen Langzeitarbeitslose mehr Angebote.“
Angebote? Hätten Sie die denn folgenlos ausschlagen dürfen? Wie hätten sie denn sonst zumindest das Gefühl haben können, etwas Sinnvolles, Anerkanntes zu tun, wenn dafür jenseits von Erwerbstätigkeit kein Platz ist?
„Bei Projekten wie der Nordbahntrasse handelt es sich formal um „Arbeitsgelegenheiten“, gemeinhin Ein-Euro-Jobs genannt, samt intensiver Begleitung und Bildungsangeboten. Murrt da nicht die lokale Wirtschaft? Wenn Arbeitslose für ein bis zwei Euro tun, was auch ein Auftrag für eine normale Firma sein könnte? „Wir sind ja ’ne arme Stadt“, sagt Lenz. Jahrelang seien in Wuppertal nur noch die allernötigsten Ausgaben erlaubt gewesen. Keines der Jobcenterprojekte wäre regulär zustande gekommen; insofern galten sie als „zusätzlich“ und kompatibel mit den Ein-Euro-Job-Regeln. Außerdem habe die Stadt gerade nicht dort ihre Etats gekürzt, wo Langzeitarbeitslose zum Einsatz kamen.“
Erstaunlich, wie Roßbach in naivster Diktion vollkommen davon absieht, welchen Charakters diese „Angebote“ sind, eine Verklärung ohnegleichen.
„Wenn wir die Leute nicht verlieren wollen, wenn wir sozialen Frieden wollen in den Städten, dann müssen wir einen zweiten Arbeitsmarkt schaffen“, sagt Lenz. Arbeit mache den Unterschied – allerdings nicht irgendeine Arbeit. „Wenn wir die Leute im Wald die Blätter putzen lassen, geben wir ihnen nicht ihre Würde zurück.“ Dass es auf die Art der Arbeit ankommt, bestätigt auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Positiv wirken Ein-Euro-Jobs einer Studie zufolge vor allem in Wirtschaftszweigen, wo mittel- bis langfristig eine überdurchschnittliche Arbeitsnachfrage zu erwarten ist.“
Nicht jede Arbeit ist würdevoll, immerhin; dass Würde aber etwas ist, das mit Erwerbsarbeit wenig, mit Selbstbestimmung viel zu tun hat, spielt hier keine Rolle. Da sind noch – wenn man dies weiterspinnt – Sanktionen der Erhaltung und Beförderung von Würde angemessen, weil sie dazu dienen sollen, dass jemand diese wichtige „Arbeit“ aufnimmt. Und wenn er den Sinn nicht erkennt, muss ihm „geholfen“ werden durch Sanktionen.
„Und Hartz IV? Muss das weg? „Nein, das ist Unsinn“, sagt Lenz, der die Realität der Vor-Agenda-Zeit noch vor Augen hat, weil er damals das Wuppertaler Sozialamt leitete. „Die Leute wurden einfach nur alimentiert.“ Heute gebe es viel mehr Ressourcen, alle bekämen mehr Geld. Ungerecht allerdings sei, dass man so schnell in Hartz IV rutsche, egal, ob man ein Leben lang oder nie gearbeitet hat. Das und die Bürokratie überlagerten alles Positive. Und Bielich aus Bautzen sagt: „Menschen zu fördern und zu fordern ist etwas Ehrenhaftes.“
Der letzte Ausspruch könnte als schlechtes Motto über einer Erziehungseinrichtung stehen, die „Angebote“ macht, die nicht ausgeschlagen werden können, ohne den Leistungsbezug zu riskieren – also: Erziehung, Umerziehung unter Androhung von Bestrafung.
Uwe Temme, ehemaliger Leiter des Sozialressorts der Stadt Wuppertal sieht das übrigens ganz ziemlich anders, was den stigmatisierenden Effekt von solchen „Angeboten“ betrifft, wie die beiden folgenden Aufzeichnungen einer Diskussionsveranstaltung in Wuppertal aus dem Juni 2016 zeigen. Er streitet darin mit dem damaligen Leiter der Agentur für Arbeit über Sinn und Unsinn bedingter Hilfeleistungen.
Sascha Liebermann