…doch im Interview mit Holger Schäfer (Institut der deutschen Wirtschaft) von Barbara Dribbusch in der taz kommt nur eine zur Sprache, die andere fehlt. Dribbusch schrieb immer wieder über Hartz IV und die Folgen, mit gewissen Sympathien für eine Abmilderung der Sanktionen, obwohl sie in einem Interview mit einem ehemaligen Fallmanager von Seiten eines erfahrenen Praktikers hören konnte, dass Sanktionen destruktiv sind. Was hat Holger Schäfer zu sagen?
Auf die erste Frage, was er von einer Erhöhung des Mindestlohnes halte, antwortet er:
„Holger Schäfer: Es kommt darauf an, wie die Reaktionen auf die Mindestlohnerhöhung ausfallen. Sicher werden mit der Erhöhung des Mindestlohnes einige Menschen ein höheres Monatseinkommen haben und damit über die Grenze rutschen, bis zu der ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II besteht.
Aber es gibt auch das Risiko, dass Arbeitsplätze verloren gehen, weil sie sich durch den höheren Mindestlohn nicht mehr rechnen und dann wegfallen. Dann müssten Erwerbstätige, die heute zum Mindestlohn arbeiten, wieder ausschließlich von Arbeitslosengeld II leben, weil es ihre Jobs nicht mehr gibt. Das kann niemand wollen.“
Ob eine Erhöhung tatsächlich zu einem Verlust an Arbeitsplätzen führen würde, ist strittig, insofern ist er zurecht vorsichtig. Doch seine Begründung für die Sorge ist aufschlussreich, denn sie läuft darauf hinaus: lieber niedrige Einkommen über Erwerbsarbeit als Erwerbslosigkeit. Doch weshalb? Wenn Erwerbsarbeit nicht dazu ausreicht, ein auskömmliches Einkommen zu erzielen, was in der Folge heißt, relativ niedrige ALG- wie auch Rentenansprüche zu erwerben, dann verfehlt sie das Ziel der schönen, wenn auch illusionären Maxime „von eigener Hände Arbeit leben“ zu können. Wozu braucht es dann solche Arbeitsplätze? Arbeitslosigkeit (also Erwerbslosigkeit) ist heute ein normativ unerwünschter Zustand, um sie aufrechtzuerhalten wird viel in Kauf genommen, dessen Folgen zugleich beklagt werden. Diese Haltung weist aber zum einen keinen Ausweg aus dem Dilemma und führt zum anderen zur Entwertung von Leistungsbereitschaft, die in die Erzeugung von Wertschöpfung münden kann. Denn dieses Ziel ist keineswegs notwendig mit dem Entstehen von Arbeitsplätzen verbunden. Schäfer steht hier für die Haltung, Arbeitsplätze höher zu gewichten als Wertschöpfung und zu akzeptieren, dass Niedrigeinkommen durch das Gemeinwesen aufgestockt werden. Im Grunde bahnt diese Haltung einem Bedingungslosen Grundeinkommen den Weg, das darauf fusst, die Existenzsicherung nicht von Erwerbstätigkeit und auch nicht von Erwerbsbereitschaft abhängig zu machen. Das wäre aber eine Neuausrichtung des Verständnisses davon, wozu Einkommen zu dienen hat und wie es zur Verfügung gestellt wird.
Schäfer behauptet in der Folge, um eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern zu versorgen, bedürfe es eines Mindestlohns von 15 bis 16 Euro in der Stunde. Diesen Wert hatte auch einst Dietrich Creutzburg in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung genannt, woraufhin Johannes Steffen verschiedene Familienkonstellationen vorrechnete und die dazugehörige Bruttolohnschwelle benannte, also die Schwelle, an der gerade kein Anspruch mehr auf aufstockende ALG II-Leistungen bestehe. Er berücksichtigte dabei existierende Sozialleistungen wie Kindergeld, -zuschlag und Wohngeld. So gelangte er für das genannte Beispiel auf einen Wert von etwa 10 Euro. Leider fragt Frau Dribbusch nicht nach, wie Schäfer zu seiner Aussage gelangt.
Nicht überraschend ist, dass er in der Folge implizit mit dem Theorem der Armutsfalle argumentiert, das sich empirisch schon lange als nicht haltbar erwiesen hat. Die Zusammenhänge, auf die es Anwendung findet, sind erheblich komplexer und vielfältiger.
Dass er die Ausweitung der Erwerbsteilnahme für erstrebenswert hält und deswegen vorschlägt, Erwerbseinkommen bis zur Minijobgrenze vollständig auf ALG II anzurechnen, heißt zugleich, dass er die Attraktivität, geringfügig erwerbstätig zu sein, reduzieren will. Das ist zwar aus seiner Vorstellung heraus, dass Erwerbstätigkeit entscheidend ist, nachvollziehbar, nicht aber dann, wenn der Zweck existenzsichernder Leistungen darin besteht, möglichst frei von der Einkommensfrage entscheiden zu können, welchen Aufgaben ich mich widmen will.
Dass die Erhöhung von Freibeträgen oder etwa den Regelsätzen dazu führe, dass mehr Personen Anspruch auf ALG hätten, hält er für keine gute Idee. Warum aber?
„Es kann aber doch nicht das Ziel sein, einen so großen Teil der Erwerbstätigen zu Empfängern von Hartz-IV-Leistungen, die aus Steuergeldern bezahlt werden, zu machen.“
Aber nur, wenn man das für problematisch hält, ist seine Einschätzung naheliegend. An dieser Stelle des Interviews findet sich auch die Überleitung zur Frage nach der Aufhebung von Sanktionen und einem BGE. Darauf antwortet er:
„Ohne Sanktionen würden Elemente eines bedingungslosen Grundeinkommens in die Leistung des Arbeitslosengeldes II einfließen. Unsere Gesellschaft ist aber so konzipiert, dass jeder erst mal für sich selbst verantwortlich ist. Diejenigen, die das nicht können, die haben den Anspruch auf solidarische Unterstützung. Was die Empfänger dieser Leistung schulden, ist im Wesentlichen das erkennbare Bemühen, künftig ohne diese Leistung auszukommen.“
Ist unsere Gesellschaft so „konzipiert“, wie er sagt, oder wurde die Verantwortung bislang nur so gedeutet? Das sind zwei verschiedene Dinge, denn die Grundfesten der Demokratie sind Autonomie und Selbstbestimmung, die durch entsprechende Rechte garantiert werden. Es ist genau dieses Verständnis, das in der Vergangenheit schon dazu geführt hat, das Existenzminimum unbesteuert zu lassen und abzusichern. Wir tun das bislang so, dass diese Absicherung erst dann greift, wenn der Einzelne bedürftig geworden ist, das ist richtig. Das folgt aber keineswegs aus der Verfasstheit des Gemeinwesens, wie auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2019 deutlich wird. Es gibt keine Erwerbsobliegenheit im Grundgesetz, das Gemeinwesen ist also anders konzipiert, als er behauptet. Damit steht diese Verfasstheit auf der einen Seite und eine ihr nicht entsprechende Deutung von Sozialstaatlichkeit auf der anderen, die dieser Verfasstheit widerspricht.
„Diese Gegenleistung ist eine eher milde Form der Reziprozität, die, so glaube ich, von den meisten Menschen als gerecht empfunden wird. Die Menschen sind schon altruistisch, das können wir durch Experimente feststellen. Aber sie lassen sich eben ungern ausnutzen, wenn sie feststellen, hier ist eine Sache völlig einseitig. Eine Abschaffung der Sanktionen würde den Jobcentern jede Handhabe nehmen, eine Aktivierung der Leistungsempfänger voranzubringen.“
Hier nun folgt die einseitige Auslegung des Reziprozitätsverständnisses, das Leistung und Gegenleistung in Beziehung zueinander setzt. Die Grundfesten der Demokratie hingegen ruhen in einem umfassenden Reziprozitätsverständnis, in dem Konstitution von Autonomie und Gemeinschaft durch die Anerkennung der Staatsbürger um ihrer selbst willen und um des Gemeinwesens willen gründet.
„Mild“ ist eine sanktionsbewehrte Reziprozität keineswegs, die das Existenzminimum verfügbar macht. Sicher ist es so, dass die Mehrheit dahin tendiert, das eingeschränkte Reziprozitätsverständnis als gerecht zu empfinden, sonst hätten wir einen solchen Sozialstaat auch nicht. Genau dieses Empfinden allerdings hinkt der Verfasstheit der Demokratie hinterher, steht in eklatantem Widerspruch zu ihr und sollte genau aus diesem Grund Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung darum sein, ob das angemessen ist. Es ist vollkommen richtig, dass die Frage, ob sich das ändern wird, davon abhängt, ob die Bürger das ändern wollen, ob sie diesen Widerspruch aufheben wollen. Mit ihm lässt sich noch lange leben, was aber, wie schon Ralf Dahrendorf vor langer Zeit schrieb, das Gemeinwesen selbst angreift – auch wenn das nicht bemerkt wird. Die Frage danach, wann jemand ausgenutzt wird und was das bedeutet, ist der Dreh- und Angelpunkt für diese Diskussion.
Einen früheren Kommentar zur Schäfers Einschätzungen zum BGE finden Sie hier.
Sascha Liebermann