„PRO & KONTRA Strafen bei Hartz IV“ – zwei Sichtweisen oder doch nicht?

Das Internetportal t-online hat einen Beitrag mit Stellungnahmen Pro und Contra Sanktionen im Arbeitslosengeld II veröffentlicht. Die Autoren sind auf der Pro-Seite Holger Schäfer, Institut der deutschen Wirtschaft, und auf der Contra-Seite Ulrich Schneider, Paritätischer Wohlfahrtsverband.

Veröffentlicht wurde der Beitrag anlässlich der Vorstellung des Projekts „HartzPlus“, das von sanktionsfrei durchgeführt wird. Im Beitrag heißt es an einer Stelle:

In einer groß angelegten Studie untersuchen der Verein „Sanktionsfrei“ und  Wuppertaler Wissenschaftler um Professor Rainer Wieland die Auswirkungen der Sanktionen auf die Betroffenen. Die Teilnehmer erhalten drei Jahre lang alle vom Jobcenter verhängten Sanktionen ersetzt, sie leben also quasi sanktionsfrei.“

Was diese Aussage übersieht, ist, dass die Sanktionen damit natürlich nicht außer Kraft gesetzt sind, lediglich ihre finanzielle Wirkung wird aufgefangen. Normativ bleiben sie vollständig in Kraft und erzeugen weiterhin Druck auf die Leistungsbezieher, denn die Sanktionsbescheide teilen ihnen mit, dass sie sich in einem Status befinden, den sie verlassen sollen. Damit ist die Frage, was nun die Studie wirklich wird zeigen können. Wir werden es sehen.

Dann folgen die Stellungnahmen, die missverständlicherweise mit Pro und Kontra übertitelt sind, obwohl die Pro-Stellungnahme sich gegen Sanktionen richte. Was schreibt Ulrich Schneider?

„Sanktionen sind ein Relikt einer völlig unwirksamen Rohrstockpädagogik. Der Rohrstock war von je her Ausdruck individueller Hilflosigkeit in einem hilflosen und hilfelosen System. Die Sanktionen stehen symbolhaft für das misanthropische Menschenbild, das Hartz IV von Anfang an durchdrang.“

Scharfe Worte, treffend, welche Schlüsse zieht er daraus?

„Alle würden wir etwas von einem solchen [Abschaffung der Sanktionen, Neuausrichtung des Systems, SL] System haben: die betroffenen Langzeitarbeitslosen und ihre Familien, für die im Zweifelsfall öffentliche Beschäftigung zu organisieren wären und die Sachbearbeiter, die hilfreich sein könnten. Letztendlich sogar wir alle, indem wir erleben, dass in Deutschland noch etwas nach vorn geht, ohne sich im Klein-Klein zu verstricken.“

Es würde also gar keine Verpflichtungen von Leistungsbeziehern mehr geben, obwohl das Erwerbsgebot beibehalten würde? Entweder plädiert Schneider (siehe auch frühere Beiträge zu seinen Äußerungen), ohne es zu ahnen, für ein Bedingungsloses Grundeinkommen oder er macht sich Illusionen darüber, dass ein erwerbszentriertes System ohne Sanktionsinstrumente existieren könne. Doch beides gehört zusammen wie Pech und Schwefel, denn der Leistungsbezug, soll er nicht als Daueraufenthalt bereitgestellt werden, muss mit Sanktionsinstrumenten verbunden sein, wenn er nicht auf Dauer bestehen können soll. Es sei denn, das Erwerbsgebot soll aufgegeben werden, dann wäre die Forderung angemessen. Wenn dem so sein sollte, dann dürfte nur noch eine Bedürftigkeitsprüfung stattfinden, die notwendig wäre, um den Leistungsbedarf festzustellen. Was die Bezieher damit machen, wäre ihnen überlassen. Dann wäre der Leistungsbezug liberaler als bisher, der Vorrang von Erwerbstätigkeit bliebe erhalten, weil Einkommen mit der Transferleistung in irgendeiner Form verrechnet werden müssten.

Was schreibt Holger Schäfter, der die Sanktionen befürwortet?

„Mit Sanktionen schützt sich die Gesellschaft vor der Ausbeutung durch jene, die ihre Selbstverantwortung nicht wahrnehmen wollen. Dem Hinweis, dass ein sanktionsgemindertes Arbeitslosengeld II nicht mehr existenzsichernd sei, muss entgegengehalten werden, dass sich die Verhängung einer Sanktion einfach umgehen lässt – nämlich indem man die gesetzlichen Anforderungen erfüllt. Nichts anderes wird von Steuerzahlern auch erwartet. Die Abschaffung der Sanktionen wäre außerdem ein Freibrief, sich den Lebensunterhalt dauerhaft und ohne Gegenleistung von anderen finanzieren zu lassen. Die wenigsten dürften das als fair empfinden.“

„Selbstverantwortung“ wird hier klarerweise auf Erwerbstätigkeit bezogen, nicht auf die Vielfalt des Lebens und der darin möglichen Tätigkeitsformen, die für ein Gemeinwesen ebenso wichtig sind: Haushaltstätigkeiten und Ehrenamt. Dass das Gemeinwesen mit seinem erwerbszentrierten Sozialstaat die Nachteile derer, die ihre Verantwortung anders wahrnehmen, z. B. in den umfangreichen und zeitintensiven Haushaltstätigkeiten, weitgehend als privat zu tragende Folgen definiert, ist eine Ausbeutung anderer Art, wenn man Schäfers Duktus beibehalten will. Der Haken an der Einengung von Selbstverantwortung ist aber der blinde Fleck. Im umfassendsten Sinne ist die Selbstverantwortung im Mündigkeitsprinzip der politischen Grundordnung zu erkennen, die keine Gegenleistungspflicht kennt, die sanktionierbar wäre. Es ist also die entscheidende Frage, wie man diese Verantwortungsübernahme versteht, im weiten oder im engen Sinne. Schäfer verwechselt Bürger mit Erwerbstätigen als gäbe es nur diese Verantwortung, doch von verfügbarem Einkommen hängt ab, wie ich die andere wahrnehmen kann. Was, wer als fair „empfindet“, entscheiden in einer Demokratie die Bürger und nicht Wissenschaftler. Von daher klärt sich diese Frage im Willensbildungsprozess, nicht ein einer Expertise. Wenn es ist, wie Schäfer sagt, wird es ohnehin nicht dazu kommen, dass ein BGE ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Dann wäre die Frage, wie die Verengung auf Erwerbstätigkeit denn dann überwunden werden konnte, sofern man sie für ein Problem hält. Das ist aber offenbar nicht Schäfers Frage.

Was schreibt er noch?

„Anders als von manchem Politiker behauptet, wirken Sanktionen keineswegs kontraproduktiv. Die mittlerweile recht umfangreiche arbeitsmarktökonomische Forschung dazu konnte nachweisen, dass sanktionierte Hilfeempfänger schneller in Arbeit kommen. Manche Menschen brauchen einen Anstoß von außen, um wieder in ein ökonomisch selbstverantwortlich gestaltetes Leben zurückzufinden: Sie brauchen auf der einen Seite Unterstützung, auf der anderen Seite aber auch die Erkenntnis, dass etwas von ihnen erwartet wird. Wer Sanktionen abschaffen will, überlässt diese Menschen ein Stück weit mehr sich selbst.“

Sehr aufschlussreich, hier wird keineswegs in den Arbeitsmarkt vertraut, es braucht Erziehungsinstrumente. Was die Sanktionen leisten können, wird bei Schäfer deutlich: „schneller in Arbeit [zu] kommen“. Aber ist das per se erstrebenswert? Das ist doch die Frage. Erwerbsarbeit ist nicht als solche bedeutsam, sie ist es nur dann, wenn sie zu Wertschöpfung fördert; wo das Maschinen besser können, sind sie menschlicher Arbeitskraft vorzuziehen, denn Wertschöpfung ist der Sinn des Wirtschaftens, sofern Wertschöpfung gewollt ist. Oder sind Unternehmen neuerdings Erziehungsanstalten?

Wer entscheidet, ob jemand einen Anstoß von außen benötigt? Die Bürger selbst oder die Experten? In einer Demokratie wäre das in der Frage, um die es hier geht, eine Entscheidung der Bürger. Wer nicht beitragen will, aus dem machen auch Sanktionen keine brauchbaren Mitarbeiter. Das schließt ja nicht aus, Angebote zu machen, echte Angebote, keine Maßnahmen.

Worin unterschneiden sich Schneider und Schäfer? Schäfer spricht offen aus, wie der Hase laufen soll, Schneider lässt im Unklaren, wie das aussehen soll, das er erreichen will. Ein BGE wollen beide nicht.

Sascha Liebermann