Fürsorge gesellschaftlich anerkennen und zugleich auslagern – das vollziehen…

Sarah Menne und Antje Funcke im Policy Brief der Bertelsmannstiftung (siehe auch hier) über „Aufstocker-Familien in Deutschland: Wenn das Geld trotz Job nicht ausreicht“ und schlagen vor, wie dem begegnet werden könnte. Am Ende des Beitrages werden verschiedene „Reformbausteine“ benannt, dazu gehört u. a. eine Kindergrundsicherung. Die Vorschläge beruhen allergings auf einer offenbar unverrückbaren Prämisse, was in Widersprüche führt: Es heißt z. B.:

„Ohne Care-Arbeit wäre unsere Gesellschaft aber nicht überlebensfähig. Zeit, Zuwendung und Fürsorge sind wichtige Bedarfe im Leben eines Kindes oder einer/ eines Jugendlichen – genauso wie von Erwachsenen. Wir müssen daher über andere Ansätze nachdenken, wie Fürsorge gesellschaftlich anerkannt und die Arbeitswelt so ausgestaltet werden kann, dass Frauen und Männer Care-Arbeit und Erwerbstätigkeit gut miteinander vereinbaren können. Gerade Alleinerziehende brauchen dabei besondere Unterstützung, um einer auskömmlichen Erwerbstätigkeit nachgehen zu können – nicht nur prekären und/oder geringfügigen Jobs – und gleichzeitig ihrer besonderen Fürsorge- verantwortung für die Kinder nachkommen zu können. Und damit sind wir beim nächsten Reformbaustein.“

Der erste Teil ist sicher unstrittig und zeugt von einem deutlichen Verständnis dafür, wie bedeutend „Care-Arbeit“ ist. Allerdings gilt das nicht mehr, wenn darauffolgend die Vereinbarkeit von „Fürsorge“ und „Arbeitswelt“ angesprochen wird, denn hier müsste zuerst einmal konstatiert werden, dass die harmonisierende Rede von einer Vereinbarkeit verbirgt, wie unvereinbar beides ist. Die Spannung zwischen beidem rührt daher, dass es um gänzlich unterschiedliche Beziehungsgefüge geht. Dass dies bei Alleinerziehenden noch drastischer in Erscheinung tritt, ist richtig, dort ist diese Spannung noch gesteigert. Insofern ist die Schlussfolgerung, es brauche Unterstützung, um „auskömmlicher Erwerbsarbeit“ nachgehen zu können, ein Wink mit dem Zaunpfahl, Erwerbsarbeit doch den normativen Vorrang zu lassen. Wer das eine tut, muss das andere vernachlässigen; wer vollerwerbstätig ist, hat so gut wie keine Zeit für „Fürsorge“, die müssen dann andere übernehmen. Daran zeigt sich allerdings, wie sehr „Vereinbarkeit“ bloß als Organisationsherausforderung betrachtet, in ihren Folgen aber nicht beachtet wird. Was wird dann wohl der folgende Reformbaustein beinhalten?

„Familien brauchen eine qualitativ hochwertige und flächendeckende ganztägige Betreuung in Kitas und Schulen. Dabei geht es nicht nur darum, dass ein solches Angebot überhaupt vorhanden ist. Vielmehr können Eltern nur dann mit gutem Gewissen erwerbstätig sein, wenn sie ihr Kind einer Kita oder Schule anvertrauen, in der es sich wohl fühlt, vertrauensvolle Bezugspersonen vorfindet und mit Freude lernen, spielen und sich ausprobieren kann. Daher muss neben einem weiteren Ausbau mehr in gute Qualität investiert werden. Der im Koalitionsvertrag anvisierte gemeinsame Qualitätsrahmen für Ganztagsangebote in Kita und Grundschule sowie die Gesamtstrategie, um den Fachkräftebedarf zu decken, sind positive Impulse, die nun dringend in die Umsetzung gebracht werden müssen.“

Wenn nun die Antwort auf diese Herausforderung „ganztätige Betreuung in Kitas und Schulen“ ist, heißt das ganz praktisch gedacht, weniger Zeit für Fürsorge und Familie, also für die Bedürfnisse der Kinder. Wie kann man diesen eklatanten Bruch übersehen, das scheint doch rätselhaft? Ganztagsbetreuung ist das genaue Gegenteil davon, Zeit füreinander zu haben. Es schränkt zugleich die Erfahrungsmöglichkeiten von Kindern ein, denn Ganztagsbetreuung heißt Aufenthalt in einer Dauerbeaufsichtigung von Personen, die zu den Kindern in einem Dienstleistungsverhältnis stehen. Kinder können dann gerade nicht stromern gehen, um die Welt in ihrer Nachbarschaft zu erkunden. Es ist dasselbe Horn, in das seit Jahren die Familienberichte der Bundesregierung blasen. Den Autorinnen scheint dieser Widerspruch überhaupt nicht aufzufallen, dass die Fürsorge mit ihrem „Reformbaustein“ ausgelagert wird, statt die Möglichkeiten, sie wahrzunehmen, zu stärken. Wofür sie plädieren ist eben gerade nicht Wertschätzung für „Care-Arbeit“ (siehe auch hier), denn sie kann von Eltern nur noch in den Randzeiten des Erwerbsarbeitstages wahrgenommen werden. Das führt also gerade zum Gegenteil dessen, was die Autorinnen erreichen wollen. Eingewandt werden könnte hier, es gehe doch um die gesamte „Care-Arbeit“, nicht nur um die von Eltern wahrzunehmende. Nun, das mag sein, doch eine Dienstleistung ist etwas anderes als die Fürsorge zu Personen, mit denen man in einer Beziehung um dieser Personen selbst willen steht. Eine Dienstleistung ist ein Angebot für alle, die es in Anspruch nehmen wollen.

Sascha Liebermann