…aus dem Jahr 2023 ist zur Klärung hilfreich (siehe den Kommentar hier). Hilfreich ist er, weil zuletzt geradezu empört auf die Vorschläge der Bundesregierung zur „Reform“ des Bürgergeldes reagiert wurde, dabei zeigt ein anderer Kommentar von Stefan Sell aus dem Januar 2024, wer eine solche Verschärfung samt erhoffter Einsparungen schon vorgesehen hatte: die damalige Bundesregierung durch einen Vorschlag des Bundesarbeitsminister Hubertus Heil.
Sell schrieb im Dezember damals:
„Dass das BVerfG unter bestimmten Umständen auch den vollständigen Leistungsentzug als nicht grundsätzlich verfassungswidrig eingestuft haben, ist begründungsbedürftig. Hierzu die Argumentation des Gerichts, die gleichsam von oben nach unten gelesen werden muss: Zwei Begriffe sind hier von zentraler Bedeutung: Der Nachranggrundsatz und eine daraus abgeleitete Mitwirkungspflicht: Dazu das BVerfG, hier zitiert nach dem Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 (Hervorhebungen nicht im Original):
‚Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Grundgesetz verwehrt dem Gesetzgeber jedoch nicht, die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz zu binden, solche Leistungen also nur dann zu gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können.'“
Entscheidend ist nach Sell dieser Absatz:
„‚Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.‘ (BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16, Randziffer 209).“
Man kann sich also lange über aktuelle Vorschläge aufregen, und das zurecht, weil sie Potemkinsche Dörfer bauen, Wolkenkuckucksheime, ohne wirklich eine in die Zukunft weisende Lösung zu bieten. Dann sollte aber nicht übersehen werden, dass diese Diskussion von der alten Bundesregierung gefördert wurde, was sie nicht hätte tun müssen. Auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinzuweisen, ohne eine wirkliche Alternative anzubieten, unterläuft die Verantwortung dafür, eine politische Lösung zu suchen.
Was steht einer solchen Lösung im Weg? Nun, der politische Wille dazu ist gegenwärtig nicht zu erkennen, damit meine ich nicht nur bei Bundestagsmitgliedern, sondern in der öffentlichen Diskussion. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen, das so viele Anknüpfungspunkte im bestehenden Sozialstaat aufgreifen und transformieren kann, steht nicht zur Diskussion, auch wenn die Abgrenzung dagegen ständig bemüht wird. Woran hängt das? Die Antwort hierauf scheint mir sehr einfach, wie ich gestern in einer öffentlichen Diskussion dazu wieder feststellen konnte:
1. Der normative Vorrang von Erwerbstätigkeit wird nicht angetastet, sie thront über allem. Dort, wo es zumindest Sympathien für eine Relativierung von Erwerbstätigkeit gibt, wird darauf verwiesen, dass wir nun mal in einem kapitalistischen System lebten, in dem die Wertschöpfung an Lohnarbeit hänge. Dieser Fatalismus kommt einer Selbstentmachtung gleich und würde jedes politische Handeln überflüssig machen. Davon abgesehen hängt der Wertschöpfungsprozess an Voraussetzungen, die er selbst nicht schafft: einem politischen Gemeinwesen und den leistungsbereiten Bürgern, die sich engagieren.
2. Die Bedeutung eines garantierten Einkommens in Geldform für die Selbstbestimmungsmöglichkeiten des Einzelnen wird unterschätzt. Dass ein solches Einkommen nicht nur einfach Geld ist, sondern zugleich Macht bedeutet, sich gegen und für etwas zu entscheiden, wird nicht gesehen oder heruntergespielt. Es sei ein „Kulturwandel“ nötig, er sei wichtiger, hieß es gestern – ein BGE wäre aber gerade ein Kulturwandel insofern, als die Gemeinschaft sich in Gestalt ihrer Bürger ein garantiertes Einkommen gewährt, das direkt an die Person geht und sie dann machen lässt. Damit erkennt sie ihre Stellung im Gemeinwesen an und vertraut darauf, dass die Bürger zum Wohle des Gemeinwesens grundsätzlich zu handeln bereit sind.
3. Mit dem zweiten Punkt verknüpft ist das Misstrauen gegenüber dem Individuum als Bürger, wie es sich gerade auch in der Bürgergelddebatte wieder zeigt – die Sorge um negative „Anreize“. Alleine schon das Denken in Anreizen ist eine Bankrotterklärung, weil unterkomplex und den Menschen als ein Wesen verstehend, das ohne ihm äußere Stimulationen nichts zu leisten im Stande ist.
Sascha Liebermann