…damit befasste sich ein Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der auf ein Gespräch mit dem Soziologen Stefan Liebig (Universität Bielefeld/ Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) zurückgeht. Darin ging es um die Frage, ob der Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit, also der Verteilung von Einkommensströmen, nicht ein anderes Gerechtigkeitsmoment an die Seite gestellt werden müsse, denn in jüngerer Vergangenheit hätten Vorschläge zu einer stärkeren Umverteilung im klassischen Sinne nicht die entsprechende Resonanz erhalten. Liebig, folgt man dem Bericht, macht damit auf einen interessanten Punkt aufmerksam, ob nämlich der heutige Sozialstaat und seine Vorstellung von Umverteilung nicht einem anderen wichtigen Moment des modernen Lebens entgegensteht: Selbstbestimmung und individuellem Freiraum. Diese Frage führt direkt, ohne dass es im Beitrag erwähnt würde, zum Bedingungslosen Grundeinkommen, das genau damit gerechtfertigt werden könnte. Dabei ist mit der Stärkung des Individuums nicht der Marktteilnehmer gemeint. Im Zentrum steht dabei eine Existenzvoraussetzung der modernen Demokratie: der mündige, autonome Bürger.
Unter dem Titel „Keine Arbeit, kein Leben. Was bedeutet uns der Job“wurde im vergangenen September in der Reihe WestArt Talk über das heutige Verständnis von Arbeit diskutiert. Zur Sprache kam durch Michael Bohmeyer, unterstützt von Inge Hannemann, das Bedingungslose Grundeinkommen. Nachdem der stellvertretende Bürgermeister von Dinslaken Eyüp Yildiz schon zu Beginn starke Worte gefunden hatte und sich als Vertreter des „revolutionären Flügels“ der SPD zu erkennen gab, schien es große Einigkeit in der Runde zu geben, dass das neoliberale System, die neoliberale Ideologie, bekämpft werden müsse. Zu diesem System gehörte es ebenso, die Bedeutung von Selbstverwirklichung im Beruf so stark aufzuladen, wie es heute geschieht. Sabine Donauer, die zu diesem Thema geforscht hat (hier und hier), stellte die These auf, dass die Pflicht zum Spaß an der Arbeit, die Pflicht zur Selbstverwirklichung, vor einigen Jahrzehnten ihren Siegeszug begann und letztlich zur Disziplinierung der Arbeitnehmer diente. Denn niemand könne sich heute mehr in ein Vorstellungsgespräch begeben, ohne sich mit Haut und Haaren dem Unternehmen verschreiben zu wollen. Wer das nicht tue, erwecke den Eindruck, sich nicht mit seiner Arbeit zu identifizieren. In ihrer Forschung hat sie nach eigenen Angaben vor allem untersucht, wie in Selbstdarstellungen von Unternehmen, Beratungsliteratur und anderen programmatischen oder konzeptuellen Schriften über die Bedeutung von Selbstverwirklichung in der Erwerbsarbeit geschrieben wird. Untersucht wurde also nicht, ob diese Konzepte für die Lebensführung von Individuen selbst tatsächlich diese Bedeutung haben und wenn ja, wie sich dies dort zeigt. Das hätte z. B. auf der Basis von offenen Interviews geschehen können. Forschung zu der Frage, welche Bedeutung die Individuierung der Lebensführung hat, so ein terminus technicus, gibt es durchaus. Auch Schlagworte wie Enttraditionalisierung bzw. Säkularisierung und entsprechende Untersuchungen beziehen sich darauf, allerdings auf andere Weise. Sie beziehen sich auf einen Wandel der Lebensführung auf der Ebene der handelnden Individuen und gehen nicht davon aus, dass die „neoliberale Ideologie“ dies erst hervorgebracht habe. Die Veränderung „von unten“ würde, anders als Frau Donauer nahelegte, erst erklären, weshalb in der Ratgeberliteratur und in Unternehmenskonzepten Niederschlag gefunden hat jenseits von Modediskussionen. Es ist die Bedeutung von Erwerbsarbeit als historisch gewachsene Norm, die Individuierung und ihr Gelingen gerade am Erfolg in dieser Sphäre misst.
Nun blieb gegen Ende der Diskussion die Frage, wo und wie angefangen werden könnte mit der Veränderung der Gegenwart, und da herrschte plötzlich keine Einmütigkeit in der Einschätzung der Lage vor (ab Stunde 1:12). Nun war der stellvertretende Bürgermeister von Dinslaken gefragt, wie er denn zum Grundeinkommen stehe. Die Idee sei super, „is ok“, aber wir müssten realistisch sein. Die Welt bestehe nicht nur aus Deutschland und wir unterschätzten die Macht des neoliberalen Systems. Es bestehe die Gefahr, dass Firmen nach Bangladesch gehen würde – wieso und weshalb wurde nicht klar. „Wir müssen erstmal mit dem System anfangen“ – also der neoliberalen Ideologie -, dann kommen die anderen Schritte – wie das BGE-, dafür brauchen wir „einen starken Staat“, eine Staatengemeinschaft die dem neoliberalen System Grenzen setze. Fazit: nur im Großen lässt sich etwas ändern, im Kleinen braucht man gar nicht anzufangen, das wäre naiv.
Ist das nicht genau die Selbstentmachtung, die wir in den letzten Jahren als Unterordnung unter vermeintliche „Sachzwänge“ zuhauf praktiziert haben? Was ist denn das neoliberale System? Wodurch ist es herbeigeführt worden? Waren das nicht Entscheidungen zur Gestaltung des Zusammenlebens, die dafür maßgeblich waren? Als SPD-Mitglied hat Yildiz womöglich aus Loyalität vergessen, wer in den letzten 15 Jahren entsprechende Entscheidungen zu verantworten und die Ausweitung des Niedriglohnsektors ermöglicht hat. Und was, müssen wir fragen, geschieht, wenn die Staatengemeinschaft nicht bereit ist gegen das „System“ vorzugehen? Können wir dann gar nichts machen? Zurecht hielt Bohmeyer dem entgegen, dass wir im Kleinen, bei uns, jeder bei sich, anfangen können, um Veränderungen zu erreichen. Das neoliberale System habe uns aber fest im Griff, entgegnete Yildiz, das merken wir nur nicht – nun ja, er hat es ja offenbar auch gemerkt, weshalb sollte dies anderen nicht ebenso möglich sein. Und wenn es schon bemerkt ist, lässt es sich ändern. Auf die Frage danach, wie Frau Donauer das BGE einschätze, schlug sie die Brücke zur Konsumhaltung und fragte, ob wir bereit wären, auf Konsum zu verzichten und uns mit dem BGE zu bescheiden. Dass dies niemand müsste, darauf wies Bohmeyer treffend hin.
Es hätte nahegelegen, an dieser Stelle zu fragen, inwiefern unsere „Arbeitslust“ und die Konsumhaltung nicht miteinander zusammenhängen, weil Konsum auch Ausdruck erfolgreicher Beteiligung an Erwerbstätigkeit ist, also Ausdruck dessen, einen Beitrag zu dem geleistet zu haben, was als höchstes Gut verstanden wird. Und wenn ein BGE genau diese Verknüpfung auflöste, dann könnte dies eben Folgen für den Konsum haben, weil er an symbolischer Bedeutung (Statussymbol, positionale Güter) verlöre. Die Frage wäre also nicht, ob die Menschen zu verzichten bereit sind, sondern ob sich durch ein BGE auch ihre Haltung zum Konsum verändern würde, weil er nicht dasselbe symbolisierte wie heute. Solche Überlegungen wurden leider nicht angestellt, nur Frau Hannemann ließ durch eine Bemerkung aufblitzen, dass dieser Zusammenhang besteht.
Ulrich Oevermann, Prof. em. (Soziologie), hat 1983 eine Analyse mit diesem Titel verfasst, die erst Anfang dieses Jahres in Form eines Buchbeitrages veröffentlicht wurde (siehe unseren Hinweis auf den Sammelband von Manuel Franzmann). Zwar war der Text in der Frankfurter Stadt- und Universitätsbibliothek herunterzuladen, konnte aber bislang als „graues Papier“ gelten.
Wohl gab es in den achtziger Jahren eine intensive Debatte über die „Krise der Arbeitsgesellschaft“ und auch das Grundeinkommen, insofern ist Oevermanns Beitrag hierzu nicht ungewöhnlich. Die Analyse selbst jedoch ist es durchaus, weil sie technologischen Fortschritt und strukturelle Arbeitslosigkeit anders deutet. Sie sind nicht alleine der Grund für Alternativen zur Erwerbszentrierung, sondern auch Resultat intrinsisch motivierter Leistungsbereitschaft. Folgerichtig hebt der Beitrag heraus, dass beide Phänomene nur die Problemlage verschärfen, die sich aus der historischen Entfaltung von Autonomie ergibt. Die Lage führt zu folgendem Widerspruch: Auf der einen Seite besteht – so die Diagnose von 1983 – eine allgemeine Leistungsverpflichtung fort, die in Erwerbsarbeit einzulösen ist, und nur dort als Gemeinwohlbeitrag anerkannt wird. Das soll notfalls mit einer Umverteilung von (Erwerbs-) Arbeit erreicht werden (Arbeit als knappes Gut); auf der anderen Seite jedoch hat sich die Lebensführung in einem Maße individuiert (nicht individualisiert!), dass Leistung und Sinnhaftigkeit nach eigenen Gütekriterin bestimmt werden, eine allgemeine Umverteilung und Vorschrift von Arbeitszeit oder Bestimmung von Gütekriterien ihr jedoch entgegensteht. Dieser Widerspruch droht nun gerade die Leistungsethik, die Grundlage des Wohlstandes ist, zu zerstören, weil an einer normativen Verpflichtung – der Erwerbsarbeit – festgehalten wird, denn sie entsprich den individuierten Lebensentwürfen nicht mehr. Diese Schlussfolgerung ist es, die die Analyse, auch wenn vom Grundeinkommen in ihr keine Rede ist, dennoch aktuell erscheinen lässt. Sie hebt nämlich die Basis von Wohlstand, die individuierte Leistungsbereitschaft, heraus, die in der Regel unterschätzt, wenn nicht gar in ihrer Bedeutung kleingeredet wird – das Stichwort „Anreiz“ sei zum Hinweis genannt.
Oevermanns Einsichten, das sei erläuternd beigefügt, rühren aus einem Forschungsverständnis, dass sich die Welt nicht anhand hoch aggregierter quantifizierter Daten erschließt, wie sind in weiten Teilen der Sozialwissenschaften verwendet werden, sondern auf der Basis von Fallrekonstruktionen (siehe hier und hier). Sie geben reichhaltigen Einblick in konkrete Lebensvollzüge und erlauben es, handlungsleitende Überzeugungen und Motivationen detailliert zu bestimmen, die in quantitativen Erhebungen lediglich verschüttet werden.