Zu einer solchen Schlussfolgerungen gelangt man angesichts des Beitrags von Julia Schaaf (siehe einen früheren Beitrag von ihr hier) in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (womöglich Bezahlschranke), der eindrucksvoll darlegt, wie sehr die Diskussion über eine vermeintliche „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ die Kinder vergisst und zugleich doch das ganze verteidigt. Schaaf stützt sich auf die Erfahrungen einer Erzieherin, die ihren Beruf gerne ausübt und über die letzten zwanzig Jahre gravierende Veränderungen in Kindergarten bzw. der Kita beobachtet wie die Ausweitung der Betreuungszeiten und Absenkung des Eintrittsalters der Kinder. An einer Stelle wird die Erzieherin mit dieser Äußerung zitiert:
„Irgendwann ist die Kita keine Ergänzung mehr zur Familie, sondern ein Ersatz“
Das ist angesichts von Betreuungszeiten von bis zu acht Stunden am Tag schon bei Kindern ab dem ersten Lebensjahr kein Wunder, wer hätte je anderes erwarten können? Deutlich wird an den Schilderungen der Erzieherin, wie sehr Kinder – wen überrascht es – viel Zeit mit ihren Eltern verbringen wollen, was nicht durch „quality time“ erreicht werden kann, die letztlich das Familienleben wie eine Aneinanderreihung von Terminen behandelt. Es geht eben auch nicht einfach um „Care-Arbeit“, denn die leisten Erzieher, denn die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern sind umfassender und anders (zur Vertiefung siehe hier). Von ihrer Präsenz hängt ab, ob es ein Familienleben wirklich gibt oder nur die Simulation davon.
Dann schreibt Schaaf:
„Seit die Familienpolitik sich eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf die Fahnen geschrieben hat, ist die Erwerbsquote von Müttern auf 67 Prozent gestiegen. Dank Elterngeld unterbrechen Frauen ihre Berufstätigkeit für kürzere Zeiträume; die Zahl ihrer Arbeitsstunden wächst. Das ist eine gute Entwicklung, ein wichtiger Schritt hin zu mehr Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen.“
(Die Angaben zur Erwerbsquote von Müttern und Vätern im Beitrag weichen von denen des Statistischen Bundesamtes ab, dort sind sie noch höher, siehe hier)
Obwohl Schaaf zu Beginn durch die Schilderungen der Erzieherin eine kritische Betrachtung eröffnet, kippt sie dann in eine simple Feier der Familienpolitik. Ist denn die Verkürzung der Unterbrechung ein Gewinn, wenn sie dazu führt, dass Mütter nun auch dem Alleinernährer-Modell folgen? Gleichberechtigung wird hier an der gleichberechtigt höheren Abwesenheit von den Kindern gemessen – wurde das zu Beginn nicht gerade als Fehlentwicklung eingeführt? Wäre es nicht treffender, gerade dessen Dominanz, den normativen Vorrang von Erwerbstätigkeit, zu relativieren, um Familien mehr Luft zu verschaffen? „Dank Elterngeld“ hat sich die Lage ja gerade verschärft, weil das Elterngeld den Erwerbserfolg prämiert und zwei Klassen von Eltern schafft.
Entsprechend passt diese Passage dann gar nicht zur Belobigung dieser Gleichberechtigung:
„Im Rahmen der Kinderstudien des Hilfswerks World Vision zum Beispiel fragt sie [die World Vision Studie, SL] Kinder, ob ihre Eltern genügend Zeit für sie haben. Ergebnis: Sofern ein Elternteil nicht oder nur in Teilzeit arbeitet, ist die überwältigende Mehrheit der Sechs- bis Elfjährigen zufrieden. Wenn Mütter und Väter beide Vollzeit machen, finden Kinder häufiger, dass die gemeinsame Zeit nicht reicht.“
Was müsste denn daraus folgen, doch eher eine Relativierung von Erwerbstätigkeit. Dann folgt wieder eine Passage, die in die andere Richtung weist:
„Gegen das Scheidungs- und Armutsrisiko von Frauen sind eine eigene Karriere und finanzielle Autonomie der einzige sichere Schutz. Viele Familien benötigen zwei Einkommen. Die Wirtschaft mit ihrem Bedarf an Fachkräften schreit ohnehin nach mehr Frauen in Vollzeit.“
Gegen ein Scheidungsrisiko bietet eine „eigene Karriere“ Schutz? Wie denn das? Wenn ein Paar aufgrund des großen Erwerbsengagements und dann noch der Kinder, kaum Zeit füreinander hat, steigert das eher das Risiko, dass es irgendwann nicht mehr weitergeht gemeinsam. Eine sonderbare Perspektive, die hier eingenommen wird. Das Armutsrisiko ließe sich anders reduzieren, durch ein Bedingungsloses Grundeinkommen. Der Preis, den Schaaf hier offenbar zahlen will, ist, die Zeit in Erwerbstätigkeit zu erhöhen. Hier fällt der Artikel auseinander, die Nicht-Vereinbarkeit von Familie und Beruf zeigt sich auf überraschende Weise in der Nicht-Vereinbarkeit der Argumentationsrichtungen.
Dann heißt es:
„Offenbar stehen wir vor einem Dilemma: „Was gut ist für das Kind, ist nicht immer gut für die Befreiung aus traditionellen Rollen von Müttern und Vätern“, sagt Andresen. Und: „Vielleicht neigen wir im Moment dazu zu tabuisieren, dass Kinder es womöglich nicht so toll finden, den ganzen Tag außerhalb von zu Hause betreut zu werden.“ Kein Wunder, dass die Professorin so vorsichtig formuliert. Noch immer müssen sich Mütter – und nur Mütter! –, die Vollzeit arbeiten, vor Teilzeitfrauen und konservativen Männern permanent für ihr Lebensmodell rechtfertigen.“
Was heißt „noch immer“? Stärker denn je müssen sich Eltern, die länger zuhausebleiben wollen, rechtfertigen, weil es als antiquiert gilt, das trifft Väter ebenso. Statt vorsichtig zu formulieren, könnte die zitierte Sabine Andresen ganz offen den Erwerbswahn kritisieren, demzufolge das Leben jenseits der Erwerbsarbeit fortwährend degradiert wird. Weiter heißt es:
„Es sollte nicht darum gehen, die einen gegen die anderen auszuspielen“, warnt die Professorin Andresen deshalb. Aber sie hält es für nötig, echte Konflikte und Widersprüche in der gesellschaftlichen Debatte um Gleichstellung und Vereinbarkeit deutlicher als bisher zu benennen. „Wenn wir das nicht tun, hängt das in den privaten Räumen. Dann müssen Mütter und Väter das allein mit ihren Kindern ausmachen.“ Was aus ihrer Sicht in der Gesellschaft fehlt: „ein Verständnis dafür, dass Pflege und Erziehung nicht einfach nebenher gehen“.
Eben, das ist die Unvereinbarkeit, weil die Beziehungsgefüge von Familie auf der einen und Erwerbsleben auf der anderen nicht zueinander passen. Da sich die Spannung zwar harmonisierend übertünchen („Vereinbarkeit“), nicht aber auflösen lässt, kann es keine Lösung geben, die in irgend eine Richtung Lebensentscheidungen vorschreibt. Dann müssen Eltern in den Stand gesetzt werden, diese Entscheidung so zu treffen, wie sie es für angemessen halten. Das geht aber nur, wenn sie sich auch ganz für Familie entscheiden könnten, das geht aber nicht ohne BGE. Der Zug fährt jedoch in die ganz andere Richtung:
„Politisch wird währenddessen die Ausweitung der Kita-Öffnungszeiten diskutiert. Mehr als die Hälfte der Eltern mit Kita-Kindern unter drei Jahren äußert entsprechenden Bedarf. Offenbar passen die Arbeitszeiten von Eltern immer seltener zum Angebot der Einrichtungen. Es gibt inzwischen Konzepte, wie man in den frühen Morgenstunden oder über Nacht eine Betreuung in der Kita pädagogisch verantworten kann – ausnahmsweise. Noch sind das Pilotprojekte. Was aber, wenn solche Angebote üblich würden? Wären erweiterte Öffnungszeiten nicht auch die Einladung, diese auszuschöpfen? Wie sollen Eltern sich im Job abgrenzen, wenn die Betreuungslandschaft signalisiert: Geht doch alles?“
Eben, also, was tun?
Gespenstisch geht es weiter:
„Wie das Deutsche Jugendinstitut (DJI) für diese Zeitung berechnet hat, verbringen ein- und zweijährige Kinder derzeit in Westdeutschland wöchentlich im Durchschnitt 29 Stunden in der Kita, vier Stunden mehr als 2012. Eltern wünschen sich aber noch längere Betreuungszeiten. 60 Prozent der Familien in Ostdeutschland haben mehr als 45 Stunden Betreuung gebucht, 30 Prozent der Eltern im Westen hätten gern einen solchen Platz. Immerzu und überall ist nur vom Bedarf und den Wünschen der Erwachsenen die Rede. Studien zufolge bedeutet Vollzeit in Deutschland deutlich längere Arbeitstage als im europäischen Vergleich. Gut ein Drittel der Väter ist hierzulande mehr als 46 Wochenstunden im Einsatz.“
So kann es kaum Familienleben geben, wer davon wegkommen will, braucht Alternativen. Kann man sich ernsthaft beklagen, wenn eine solche Entwicklung langfristig zu einer weiteren Erosion von Familie führt, damit die frühesten Solidarerfahrungen, die Kinder machen – nämlich mit den Eltern im Schonraum Familie – verunmöglicht werden? Aus der Studie wird auch die folgende Passage zitiert:
„Die Forscher [des DJI, SL] bilanzieren: Die „partnerschaftlich verkürzte Vollzeit“, also eine Arbeitszeit von jeweils 80 bis 90 Prozent, sorge dafür, dass zumindest ein Elternteil genau die ein bis zwei Stunden früher nach Hause komme, die für das Kind einen Unterschied machten. Oder, wie Karin Jurczyk es ausdrückt: „Eine Stunde schöne Zeit mehr am Nachmittag ist für die Kinder wirklich toll – insbesondere mit den Vätern.“
Ein bescheidener Vorschlag, der wenig ändert.
(siehe „Liebe auf Distanz“ und auch hier)
Sascha Liebermann