Axel Honneth, Prof. em. an der Goethe-Universität Frankfurt, äußerte sich in einem Interview mit dem Handelsblatt ausführlich zum Bedingungslosen Grundeinkommen und weiteren Fragen, die damit in Verbindung stehen. Dabei fällt auf, dass Honneth sich recht abstrakt mit gesellschaftlichen Entwicklungen befasst, so z. B. hier:
„[Handelsblatt] Dabei hatte der Mensch wohl noch nie so viel Freizeit wie heute.
[Honneth] Es ist aber eine freie Zeit, die viel stärker als früher gleichzeitig von Forderungen des Arbeitslebens durchzogen ist – was durch die Digitalisierung inzwischen noch gesteigert wurde. Nur die wenigsten von uns sind doch konsequent offline am Abend und am Wochenende.“
Hier wie auch an späteren Stellen verliert Honneth kein Wort darüber, wie sehr die Bedeutung des „Arbeitslebens“ durch sozialpolitische Reformen verstärkt wurde. Zwar reagierten die Agenda 2010 und ihre Vorläufer schon auf Wandlungen in der Deutung des Stellenwertes von Erwerbstätigkeit, sie haben zugleich aber diese verstärkt. Die Verschärfung von Sanktionsmöglichkeiten so wie die workfare-Ausrichtung der Sozialpolitik haben diese Entwicklung institutionalisiert. Die Entleerung des Leistungsbegriffs (siehe auch hier), die Bejubelung jegliches Zuwachses an Erwerbstätigen, ganz gleich in welchem Umfang, sind Ausdruck dessen. Es sind nicht einfach „Forderungen des Arbeitslebens“, wie Honneth sagt, es handelt sich um einen breiten normativen Konsens bezüglich des Stellenwertes von Erwerbstätigkeit, der dazu führt, dass sich die „Forderungen des Arbeitslebens“ so entwickeln können. Vielleicht würde Honneth das auf Rückfrage ähnlich sehen, es fällt allerdings auf, dass er es gar nicht erwähnt.
In der folgenden Passage wird nach dem Bedingungslosen Grundeinkommen gefragt:
„[Handelsblatt] Wie bewerten Sie den weitverbreiteten Wunsch, weniger arbeiten zu wollen, und dafür auch Gehaltseinbußen hinzunehmen?
[Honneth] Das ist die Vision des normalen Bürgers. Der will schon arbeiten, aber nicht mehr auf Kosten von Familie und Freizeit. Die direkte Nachkriegsgeneration war da noch anders motiviert. Sie wollte den Wiederaufbau um jeden Preis mitbestreiten. Die Söhne, Töchter und Enkel dieser Nachkriegsgeneration wollen mehr freie Zeit und sind dafür auch bereit, auf Anerkennung in Form von Geld zu verzichten. Und lassen Sie mich bitte einige Sätze zum bedingungslosen Grundeinkommen sagen …“
Vermutlich bezieht sich Honneth für seine Einschätzung auf Befragungen, diese sagen aber nichts darüber aus, wie jemand handelt. Womöglich bezieht er sich auch auf die Diskussion um die Generation Y. Während in offenen Interviews eine Diskrepanz zwischen beidem – Einstellung und Handeln – konkret bestimmbar wäre, ist das bei standardisierten Befragungen methodisch nicht möglich, es lässt sich nur eine Nicht-Übereinstimmung zwischen zwei Antworten zu einer ähnlichen Frage feststellen mittels einer Kontrollfrage. Wenn man nach Hinweisen sucht, wie es sich mit dem Stellenwert von Erwerbstätigkeit verhält, so spricht die Betreuungsquote von Kindern unter drei Jahren, nach Angaben des Statistischen Bundesamtes, eine andere Sprache. Diese Quote steigt stetig an, aber nicht nur in diesem Bereich. Auch die Ausweitung der Schulzeiten in der Grundschule durch die Nutzung von Ganztagsbetreuung hat in den letzten Jahren zugenommen. Zugleich gibt es keine Diskussion darüber, dass es „Mehr Zeit für Familie“ geben müsste, der gleichnamige Familienbericht plädiert eher für das Gegenteil. Das 2007 eingeführte Elterngeld stößt in dasselbe Horn, prämiert Erwerbstätige und deren baldige Rückkehr in den Arbeitsmarkt und unterwirft Familie demselben normativ betrachtet stärker denn zuvor.
Dann kommt Honneth direkt auf das BGE zu sprechen:
„[Handelsblatt] Bitte!
[Honneth] Ich halte recht wenig vom bedingungslosen Grundeinkommen. Nehmen wir einmal an, dadurch könnte tatsächlich jedem Bürger und jeder Bürgerin ein minimales Auskommen garantiert werden – wie aber käme dann noch ein gesellschaftlicher Zusammenhalt zustande? Die Gefahr scheint mir, dass sich solche Bindungen nur noch privat ergeben würden, es fehlte, was uns über unsere individuellen Präferenzen hinaus noch verbinden könnte.“
Diese Einlassung ist erstaunlich, und zwar weil darin Honneths Verständnis davon deutlich wird, wie Solidarität entsteht und sich erhalten kann. Die Bereitstellung eines BGE wäre ja gerade eine eminent politische Entscheidung dafür, dass die Gemeinschaft ihren Bürgern eine Einkommensgarantie gewährt – die Bürger also sich selbst ohne Vorbehalte. Das ist als solches ein Zeichen von Solidarität, nimmt die Bürger in ihrer Stellung im Gemeinwesen ernst und stutzt Erwerbstätigkeit auf das zurück, was sie ist, ein Beitrag unter anderen, von dem jedoch der Staatsbürgerstatus nicht abhängt. Deswegen kennt das Grundgesetz auch keine Erwerbsobliegenheit (das lässt sich auch dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entnehmen). Wenn Honneth nun also die Dimension politischer Gemeinschaft nicht als Vebindendes sieht, die Zusammenhalt bedeutet, welche dann? Es bliebe dafür nur Erwerbstätigkeit und genau dies wäre illusionär, weil Erwerbstätigkeit Bürger nicht um ihrer selbst willen integriert, sie sind lediglich aufgabenspezifisch relevant. Genau das unterscheidet moderne Arbeitsverträge von Feudalverhältnissen, dass beide Vertragsparteien sich geregelt voneinander trennen können.
Weiter sagt Honneth direkt auf die vorangehende Passage folgend:
„Zudem entstünde das Risiko, einen zentralen, ethisch grundierten Haltepunkte im Leben zu verlieren, der der eigenen Existenz über die persönlichen Beziehungen hinaus Sinn und Orientierung verleiht. Einer geregelten, einigermaßen sinnvollen Arbeit nachzugehen bedeutet auch, einen gesellschaftlichen Beitrag leisten zu können und dafür etwas Lebensnotwendiges zu erhalten, nämlich soziale Anerkennung.“
Hier wird deutlich, dass Honneth zwei Logiken von Anerkennung durcheinanderbringt, die getrennt gehalten werden müssen. Die eine ist die Anerkennung der Person um ihrer selbst willen, dafür gibt es zwei elementare Orte: Familie und politische Vergemeinschaftung. Die andere ist die Anerkennung um einer Leistung willen, sie richtet sich nicht auf die ganze Person, sondern auf sie in ihren Fähigkeiten, Aufgaben zu bewältigen. Dieser „gesellschaftliche Beitrag“ ist ein ganz anderer als der Beitrag als in der ersten Dimension. Unbezahlte Arbeit taucht hier überhaupt nicht auf, auch das ist bemerkenswert.
Der Journalist des Handelsblattes ist offenbar auch irritiert und fragt zurück:
„[Handelsblatt] Anerkennung ist Ihr großes Thema. Sie haben viel dazu geschrieben … Deshalb die Frage: Kann ein Mensch seine Anerkennung nicht auch aus anderen Tätigkeiten ziehen? Würde das bedingungslose Grundeinkommen nicht auch frei machen für die wichtigen Dinge in der Welt und im Leben?
[Honneth] Nein, das könnte leicht auf eine elitäre Annahme hinauslaufen. Denn auch mit einem garantierten Grundeinkommen bräuchten wir doch mehr als bloß die vielleicht gewonnene Zeit, um uns, wie Sie sagen, den „wirklich wichtigen“ Dingen im Leben zuzuwenden. Wir bräuchten kulturelle Anregungen, Informationen über ethische Alternativen, Erfahrungen mit fremden Lebensweisen, kurz, all das, was Bildung im weiten Sinn genannt wird.“
Dass Honneth hier eine „elitäre Annahme“ befürchtet, ist indes selbst elitär, spricht er doch dem Einzelnen ab, dass Erfahrungsprozesse von ihm ausgehen müssen, statt von außen veranlasst zu werden. Er muss – und das muss er heute auch – entscheiden, was für ihn die wichtigen Dinge sind. Dazu kann ein Gemeinwesen nur Infrastruktur bereitstellen. Daran würde ein BGE gar nichts ändern, es würde diese Zumutung noch verstärken. Was dann noch hinzutreten kann, schließt ein BGE gar nicht aus, Honneth aber formuliert dies so, als würde erst durch „kulturelle Anregungen“ (meint er so etwas wie „kulturelle Bildung“) – was auch immer das wäre – Handlungsfähigkeit entstehen. Weshalb setzt er überhaupt das eine und das andere einander entgegen? Und sein Bildungsverständnis erweist sich dabei doch als erstaunlich verkürzt, denn die entscheidenden Bildungsprozesse vollziehen sich zuerst einmal innerhalb der Familie, es ist längst bekannt, wie bedeutsam sie sind. Erst darauf folgen Bildungseinrichtungen, die eben nicht abfangen können, was innerfamilial schief läuft. Erfahrungsprozesse können nur ermöglicht, nicht aber erzwungen werden.
Er fährt fort:
„All das können wir aber nur erwerben, wenn wir uns im Austausch mit anderen befinden und dank einer guten Ausbildung diese kulturellen Wissensvorräte aneignen können. Und dazu regt im allgemeinen gerade die Einbeziehung in die gesellschaftliche Arbeitsteilung an. Vorausgesetzt, sie ist fair organisiert, bietet genügend Raum für sinnvolle Tätigkeiten und ist gut genug vergütet.“
Auch hier wieder verkürzt er, der Austausch beginnt doch viel früher schon, sie setzt Bildungsprozesse in der Familie voraus, nicht umgekehrt. Dann erst folgen Prozesse „gesellschaftlicher Arbeitsteilung“, wobei Honneth hier überhaupt nicht unterscheidet zwischen denen, in die die ganze Person involviert ist (politische Vergemeinschaftung) und denen, in die sie nur bezogen auf die Bewältigung von Aufgaben involviert ist (Arbeitswelt). Und wer entscheidet darüber, ob Tätigkeiten sinnvoll sind? Dazu bedarf es zweier Momente, auf der einen Seite die gesellschaftliche Dimension einer Tätigkeit, auf der anderen die Neigungen einer konkreten Person, die sich entscheiden muss. Der Sinn für einen, ergibt sich nicht aus der gesellschaftlichen Sinnhaftigkeit von Tätigkeiten. Nicht alles ist für jeden gleichermaßen sinnstiftend, sofern er dazu keine persönliche Affinität hat.
„[Handelsblatt] Das sind aber leider nicht alle Jobs …
[Honneth] Dennoch. Wenn wir durch ein minimales Grundeinkommen freigesetzt werden, so entsteht doch die Gefahr, dass die, die schon über ein solches kulturelles Wissen verfügen, weiter gedeihen, und die anderen, die schon bislang von all dem ausgeschlossen waren, weiter in das kümmerliche Leben einer reinen Privatperson ohne gesellschaftliche Bindung getrieben werden.“
Wer entscheidet darüber, dass dies so ist, wie Honneth sagt? Sicher, ein Gemeinwesen, dass das geschehen lässt und die Lage nicht verändern will, darin würde sich die Lage womöglich so entwicklen. Honneth denkt aber über die Köpfe derer hinweg, die in ihrer Entscheidungsfähigkeit gestärkt werden könnten durch ein BGE. Und wer entscheidet, welches kulturelle Wissen das richtige und wichtige ist? Für Honneth steht das offenbar fest, ist es aber nicht in einer Demokratie auch immer strittig, worin das besteht und muss stets neu austariert werden? Honneths Ausführungen sind hier ganz ähnlich zu denen Anke Hassels.
In diesem Sinne geht es auch weiter:
„Nein, ich denke, dass es derzeit zum Programm einer besseren, gerechteren, jeden mit mehr sinnvollen Tätigkeiten versehenden Arbeitsteilung keine Alternative gibt. Wer dank eines minimalen Grundeinkommens aus dieser Arbeitsteilung herausfällt, dem fehlen wahrscheinlich genau das aktive Miteinander, der arbeitsteilige Austausch und die kulturelle Anregung, die für die Beschäftigung mit „wirklich wichtigen“ Dingen des Lebens die Voraussetzung bilden.“
Hier wird der Bürger letztlich zum Objekt der Arbeitszuteilung, wenn er gar nicht selbst sich auf die Suche macht, sondern mit „Tätigkeiten“ versehen wird. Es gibt heute freie Berufswahl und auch sonst ist man darin frei, Tätigkeitsfelder zu suchen – einzig das Erwerbsgebot fordert dafür, einen bestimmten Weg zu beschreiten, will man nicht gegen den gemeinschaftlichen Konsens handeln. Was Honneth vorsieht, geht weit dahinter zurück. Immerhin ist er gegen Ende des Absatzes vorsichtig, wenn er sagt, „wahrscheinlich“ fehle jemandem das „aktive Miteinander“, der aus diesen Zusammenhängen herausfalle, aber was hat das mit einem BGE zu tun? Es weitet doch vielmehr das Feld, in dem Engagement erwünscht ist.
Auf die Frage des Interviewers nach dem Stellenwert von Familie antwortet Honneth:
„Sie ist trotz ihrer kulturellen Hinterfragung für den Einzelnen wichtiger geworden. Und um dieses gestiegene Bedürfnis nach Familie verwirklichen zu können, braucht man Zeit. Wir sehen das gerade sehr deutlich daran, dass auch Väter mehr und mehr bereit sind, für die Kinder zu Hause zu bleiben, Elternzeit zu nehmen oder in Teilzeit zu gehen.“
Hier scheint sich Honneth wieder auf Befragungen zu berufen, sowohl die Statistiken zur Nutzung des Elterngeldes (das nur für eine kurze Zeit gezahlt wird) als auch die Interviews mit Eltern kleiner Kinder, die wir im Rahmen eines Projekts ausgewertet haben, zeugen davon, dass sich Eltern, hier besonders Väter, erheblich mehr Zeit nehmen würden. Man beachte dazu nur die Ausweitung nicht nur der Betreuungszeiten in Kitas, auch die Ausdehnung auf immer jüngere Kinder, eine Entwicklung vor allem der vergangenen zehn Jahre in Deutschland. Hier darf man sich von oberflächlichen Befragungen nicht blenden lassen, das eine ist, etwas als wichtig zu erklären, das andere, entsprechend zu handeln. Familie ist zum Anhängsel des Arbeitsmarktes geworden – eine Abkehr davon kann ich nicht feststellen.
Erst am Ende des Interviews lässt Honneth noch aufscheinen, dass es etwas jenseits von Erwerbsarbeit gebe:
„Es muss sich dabei nicht nur um finanziell vergütete Arbeit handeln, häufig reicht, will man noch die Erfahrung des Gebrauchtseins machen, die öffentliche Anerkennung durch staatliche Instanzen oder private Träger. Wie gesagt: Der Mensch braucht Arbeit zur Strukturierung seines Lebens und zur Erfahrung gesellschaftlicher Einbeziehung – und das gilt auch noch fürs Alter!“
Immerhin. Besteht allerdings die „öffentliche Anerkennung“ lediglich darin, warme Worte zu sprechen oder Ehrungen vorzunehmen, was viele Ehrenamtliche gar nicht wollen, ändert dies nichts am Vorrang des Erwerbsgebots. Damit bleibt der normative Maßstab erhalten, der alles andere jenseits der Erwerbstätigkeit heute degradiert. Dass Honneth die Haushaltstätigkeiten unter den Tisch fallen lässt, überrascht dann auch nicht mehr.
Es ist erstaunlich, wie engstirnig bzw. kurzsichtig eine Sozialphilosophie der Anerkennung ausfallen kann, die ein solch hohes Ansehen in öffentlichen Debatten genießt.
Sascha Liebermann