Zum zweiten Mal schon hat der Vorschlag eines Bedingungslosen Grundeinkommens in diesem Jahr erhebliche mediale Aufmerksamkeit gefunden. Als aufgrund der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus im Frühjahr Kontaktbeschränkungen erlassen wurden, in deren Folge Einkommen für viele Bürgerinnen und Bürger wegbrachen und sich die Frage stellte, wie dem begegnet werden könnte, wurde das BGE medial aufgegriffen. Auch gab es Petitionen auf verschiedenen Wegen, die zumindest für die Zeit der Krise eine Art Grundeinkommen vorschlugen. Im vergangenen August wiederum war der Anlass ein anderer. Michael Bohmeyer, Gründer des Berliner Vereins „Mein Grundeinkommen“, kündigte unter dem Motto „Wir wollen es wissen“ in einer Pressekonferenz an, ein Pilotprojekt zum Grundeinkommen durchführen zu wollen. An seiner Seite waren zwei Wissenschaftler, die die wissenschaftliche Begleitung des Vorhabens erläuterten und das Studiendesign vorstellten. An Superlativen bei der Vorstellung der Studie wurde nicht gespart, wie jüngst auch Manuel Franzmann konstatiert hat, allerdings ist der Verein Mein Grundeinkommen bislang schon nicht durch sachliche Berichte über seine Aktionen aufgefallen, obwohl diese ja durchaus spektakulär waren. Welcher Verein kann schon von sich sagen, dass er monatlich über 600 000 Euro per Spenden einsammelt? Besonders irritierend ist das Auftreten, da es sich um ein Forschungsprojekt handelt, die Offenheit des Ergebnisses zwar hervorgehoben wurde, zugleich aber der Verein seinen Erfolg angesichts bisheriger Gewinner eines Grundeinkommens und ihrer Erfahrungen stets herausstellte. Das soll nun keinesfalls gegen die Durchführung des Projekts sprechen und auch die Seriosität der involvierten Wissenschaftler nicht in Frage stellen, ist aber zumindest eine irritierende Ausgangskonstellation, auch wenn in das Wissenschaftssystem schon von längerer Zeit selbst eine gewisse Marketinghaltung Einzug gehalten hat. Jürgen Schupp, der an der FU-Berlin Professor für Empirische Sozialforschung und zugleich Senior Research Fellow am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ist, war nicht nur in der Pressekonferenz dabei, er bezog danach mehrfach in den Medien Stellung und hat damit eine besondere Position inne. Das DIW kündigte ebenfalls in einer Pressemitteilung das Vorhaben an und der Präsident des DIW, Marcel Fratzscher, begleitete die Ankündigung mit einer Stellungnahme, in der er – der sich bislang stets gegen ein BGE ausgesprochen hatte – die Erprobung befürwortete. Dass es nun zu einem solchen Pilotprojekt überhaupt kommen konnte, verdankt sich der jahrelangen, beharrlich geführten öffentlichen Diskussion, die medial leider häufig nicht angemessen differenziert dargestellt wird.
Nach der Vorstellung der ersten Studie, zwei weitere sollen sich anschließen, in der zu Beginn vorgesehen war, dass 120 Teilnehmer über den Zeitraum von drei Jahren ein Grundeinkommen erhalten, gab es rasch mehr als die eine Million nötigen Bewerber, um eine statistisch relevante Auswahl an Probanden zu erhalten. Ebenso überstieg das Spendenaufkommen bald das erwartete Maß, so daß mehr als nur 120 Personen ein Grundeinkommen über drei Jahre erhalten können. Methodisch folgt die Studie einem randomisiert kontrollierten Studiendesign, wie es aus der medizinischen Forschung bekannt ist, um z. B. die Wirkung von Medikamente oder einzelnen Wirkstoffen zu untersuchen. Es gibt dementsprechend eine Behandlungsgruppe mit Teilnehmern, die ein Grundeinkommen erhalten und eine Kontrollgruppe ohne. Beide werden über die Laufzeit der Studie miteinander verglichen werden. Es handelt sich nun nicht einfach nur um eine Studie, das sei hier angefügt. Angesichts dessen, dass das BGE seit Jahren schon als alternativer Weg sozialer Basiseinkommenssicherung betrachtet wird, werden die Ergebnisse öffentlich rezipiert und womöglich auf die Diskussion zurückwirken. Das war schon bei den bisherigen Feldstudien der Fall, zuletzt bei derjenigen in Finnland, die eine enorme Berichterstattung begleitete, zu der auch Falschmeldungen gehörten. Es wäre zu wünschen, dass die Berichterstattung zu diesem Pilotprojekt differenzierter erfolgt, denn gerade am Beispiel Finnlands konnte mit Erschrecken festgestellt werden, wie voreingenommen – in beide Richtungen – berichtet wurde, was erst die Präsentation des vorläufigen Berichts und dann des Endberichts weitgehend beendete.
Jürgen Schupp selbst hat sich seit Vorstellung der Studie zu Kritik am Studiendesign geäußert, die auch aus der community of scientists kam, ebenso aber wurden aus der Politik Vorbehalte angemeldet und die Ergebnisse in Frage gestellt. Wer jedoch schon alles weiß, kann man da wohl nur sagen, muss nicht mehr nachdenken und schon gar nicht forschen. Einem Projekt also per se abzusprechen, dass etwas herausgefunden werden kann, ist unredlich. Gleichwohl aber lassen sich berechtigte Fragen zum Forschungsdesign, der methodischen Anlage und den etwaigen praktischen Folgen eines solchen Projektes stellen.
Der Studie ist zuerst einmal zugute zu halten, dass sie ins Offene erfolgt; die relevanten Daten müssen sorgfältig erhoben und ausgewertet werden – das geschieht vorwiegend mittels standardisierter Verfahren („quantitative Forschung“). In der Projektmappe der Studie wird allerdings auch „qualitative Forschung“ erwähnt, es sollen offenbar Forschungsgespräche geführt und mit den standardisierten Daten aus den Befragungen verglichen werden. Wie diese Gespräche ausgewertet werden, wird dort nicht dargelegt. Um die Tragweite des Projekts bzw. der Studie zu ermessen, ist es wichtig, die Rahmenbedingungen zu verstehen sowie sich Klarheit über die Methoden der Datenerhebung und -auswertung zu verschaffen, denn alles zusammen entscheidet darüber, welche Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen gezogen werden können – und welche nicht. Solche Zusammenhänge sind für Laien nicht leicht nachzuvollziehen, weil sie gewisse Kenntnisse sozialwissenschaftlicher Methoden und ihrer Implikationen voraussetzen. Das gilt ganz besonders für die Tradition der „qualitativen“ Forschung, da sie in der Regel öffentlich wenig bekannt ist. Trotzdem soll hier zumindest grob skizziert werden, worum es dabei geht, da heutzutage die Öffentlichkeit häufig mit Ergebnissen aus wissenschaftlichen Studien konfrontiert ist.
Standardisierte Daten, wie sie in der „empirischen Sozialforschung“ (ohnehin ein vereinnahmender Begriff, in diesem Handbuch wird er weiter ausgelegt) genutzt werden, charakterisiert, dass die Lebenspraxis in ihrer konkreten Gestalt darin nur derart zum Ausdruck kommt, wie es die erhobenen Merkmale (Alter, Zufriedenheit, Geschlecht usw.) und die ihnen zugeordneten Antwortmöglichkeiten zulassen. Wer schon einmal an einer Befragung teilgenommen hat, weiß um dieses Phänomen. Die Befragten können sich nicht in ihrer Sprache äußern, was den Zugang zu ihren konkreten Weltdeutungen verstellt. Sie in Erfahrung zu bringen, ist aber unerlässlich, um zu verstehen, weshalb sie handeln, wie sie handeln. Die Form der standardisierten Datenerhebung greift damit recht oberflächlich und grob Einstellungen ab, ohne auf Deutungsmuster und handlungsleitende Überzeugungen der betreffenden Personen zugreifen zu können. Sie aber sind für die Entscheidungsfindung in der Praxis maßgeblich. Diese methodischen Beschränkungen standardisierter Verfahren bei der Erforschung der sinnstrukturierten Welt humaner Lebenspraxis sind erheblich, weswegen es immer wichtig ist, die Frage zu beantworten, ob die eingesetzten Verfahren für den visierten Zweck aufschlussreich sind. Das ist nun keine neue Erkenntnis, bedenkt man aber, dass der allergrößte Teil sozialwissenschaftlicher Forschung mit standardisierten Verfahren erfolgt, kann man von einer erheblichen Schieflage sprechen. Um also über die Lebenspraxis Konkretes zu erfahren, das in seiner Erzeugungsdynamik das Handeln verstehen ließe, wären Verschriftungen von technischen Aufzeichnungen offener Forschungsgespräche und Gruppendiskussionen, Interaktionen sowie Tagebücher, Korrespondenz u.a. erheblich aufschlussreicher. Eine entsprechende Auswertung müsste dann mit Verfahren der hermeneutischen fallrekonstruktiven Forschung erfolgen. Darüber ist in der Projektdarstellung nichts zu erfahren, der Verweis auf „qualitative“ Forschung sagt noch nichts darüber, wie die Auswertung erfolgen soll.
Neben diesen methodischen Eigenheiten ergeben sich aufgrund der Rahmenbedingungen einer befristeten Feldstudie Beschränkungen, über deren Folgen auch international diskutiert wird (siehe z.B. hier und hier).
Die Feldstudie setzt das Erwerbsgebot nicht außer Kraft, es bleibt für die Studienteilnehmer als Rechtfertigungszusammenhang ihres Handelns während der Projektlaufzeit bestehen. Was bedeutet das für die zu erwartenden Ergebnisse? Entscheidungen, die Probanden während des Projekts treffen, müssen sich sowohl in der Gegenwart angesichts ihres privilegierten Status als Grundeinkommensbezieher während des Projekts als auch in der Zukunft, nach Ablauf des Projekts, als vernünftig erweisen können. Das galt und gilt übrigens ebenso für die Gewinner der Verlosungen von Mein Grundeinkommen und das gilt ebenso für Lotteriegewinner, die in der Forschung manchmal als BGE-verwandt betrachtet werden, weil sie aufgrund des Gewinns auf Erwerbstätigkeit verzichten könnten. Die Geltung des Erwerbsgebots wird also durch die Befristung des Projekts auf drei Jahre sogar eher noch verstärkt, weil die Grundeinkommensbezieher einen privilegierten Status innehaben. Erkennbar ist die Wirkung des Erwerbsgebots als einer Norm an dem schon lange als strukturelle Stigmatisierung Erwerbsloser bekannten Phänomen. Denn sie rührt ebenfalls daher, dass das Erwerbsgebot, das zugleich Fundament des Sozialstaates ist, weiter seine normative Wirkung entfaltet, auch wenn jemand nicht (z. B. Erwerbslose und Nicht-Erwerbstätige) oder noch nicht (z. B. Schüler und Studenten) erwerbstätig ist. Entscheidungen, die Probanden während der Projektlaufzeit treffen, wären also stets ins Verhältnis zum Setting des Projekts zu setzen, was die Auswertung komplexer und anspruchsvoller macht, als es auf den ersten Blick scheint.
Neben diesen beiden Einwänden, die sich auf methodische Beschränkungen und die Studienanlage beziehen, gibt es noch einen anderen, der legitimatorischer Art ist. Er wird erst verständlich, wenn Projektziel und Lebenswirklichkeiten in der Gegenwart ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Das Pilotprojekt will herausfinden, wie Teilnehmer mit einem BGE umgehen, welche Entscheidungen sie treffen, wie es sich mit der Erwerbsteilnahme verhält. Hier stellt sich schon die Frage, was denn „positive Wirkungen“ wären, auf die es dem Projekt ankommt, wer entscheidet über den Maßstab, auf dessen Basis diese Bewertungen vorgenommen werden? Will man hier keinen solchen Maßstab willkürlich einführen (z. B. Verbesserung der Gesundheit, höhere Erwerbsbeteiligung oder nicht zu stark abnehmende, ehrenamtliches Engagement usw.), dann bliebe nur einer, der in der Lebenspraxis selbst und der für sie maßgebenden politischen Ordnung enthalten ist. Damit würde man dem Dilemma entgehen, in das alle Feldexperimente sozialwissenschaftlicher Art geraten, die Maßstäbe von außen einführen. Wie steht es darum?
Für die Lebensverhältnisse in Deutschland und die entsprechende politische Ordnung – nur sie sind für das Projekt relevant – gelten hohe Erwartungen an Autonomie, also daran, Entscheidungen mit Anspruch auf Begründbarkeit zu treffen und diese auch zu verantworten. Autonomie ist eine Norm. Das ist nicht nur im Alltag auf einfache Weise zu beobachten, es ist der politischen Ordnung eingeschrieben, man denke hier nur an Art. 20 GG. Von der Autonomie – also der Mündigkeit der Bürger – wird schlicht ausgegangen, sie gilt als Voraussetzung, vor der sich alle verantworten müssen, und zwar immer im Verhältnis dazu, was ihre Entscheidungen für ihre individuelle Lebensführung bedeuten und was für das Gemeinwesen. Entsprechend werden die Befugnisse des Staates, in diese Autonomie einzugreifen, beschränkt und sind, wo dennoch eingegriffen wird, außerordentlich begründungspflichtig (man denke hier nur an die Einschränkungen der letzten Monate). Wenn also diese Autonomie Voraussetzung des gegenwärtigen Zusammenlebens und der darauf gründenden politischen Ordnung ist, was „testet“ dann das „Pilotprojekt Grundeinkommen“? Erwerbsteilnahme ist kein Gebot, das aus der politischen Ordnung folgt, aus gutem Grund gibt es keine Zwangsarbeit sondern freie Berufswahl. Ist das Ziel des Projekts dann nicht, etwas zu testen, was schon lange in Geltung ist, unsere Lebensverhältnisse ohne auszeichnet, ob uns das gefällt oder nicht? Dann wäre die praktische Folge dieses Tests, dass er in Frage stellt, ob es denn so ist, wie es ist, und ob das „positiv“ ist. Praktisch würde damit nicht nur in Frage gestellt, ob denn diese Autonomie tatsächlich Grundlage und Norm unseres Zusammenlebens ist, sondern auch, ob sie angemessen ist. Damit stelle das Pilotprojekt die Gegenwart in Frage, spricht ein Misstrauen in die Mündigkeit der Bürger aus und stellt sie zur Disposition, je nachdem, wie dann die Ergebnisse ausfallen.
Dieser Einwand ist weit über die Grundeinkommensdiskussion hinaus von Bedeutung, weil die Demokratie in ihren Grundfesten damit in Frage gestellt wird. Das ist ein zeitdiagnostisch äußerst wichtiges Phänomen, das zu untersuchen eigens sinnvoll wäre.
Sascha Liebermann