“Kann Arbeitsleistung weiterhin als basales Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit dienen?”

Ulrich Oevermann, Prof. em. (Soziologie), hat 1983 eine Analyse mit diesem Titel verfasst, die erst Anfang dieses Jahres in Form eines Buchbeitrages veröffentlicht wurde (siehe unseren Hinweis auf den Sammelband von Manuel Franzmann). Zwar war der Text in der Frankfurter Stadt- und Universitätsbibliothek herunterzuladen, konnte aber bislang als „graues Papier“ gelten.

Wohl gab es in den achtziger Jahren eine intensive Debatte über die „Krise der Arbeitsgesellschaft“ und auch das Grundeinkommen, insofern ist Oevermanns Beitrag hierzu nicht ungewöhnlich. Die Analyse selbst jedoch ist es durchaus, weil sie technologischen Fortschritt und strukturelle Arbeitslosigkeit anders deutet. Sie sind nicht alleine der Grund für Alternativen zur Erwerbszentrierung, sondern auch Resultat intrinsisch motivierter Leistungsbereitschaft. Folgerichtig hebt der Beitrag heraus, dass beide Phänomene nur die Problemlage verschärfen, die sich aus der historischen Entfaltung von Autonomie ergibt. Die Lage führt zu folgendem Widerspruch: Auf der einen Seite besteht – so die Diagnose von 1983 – eine allgemeine Leistungsverpflichtung fort, die in Erwerbsarbeit einzulösen ist, und nur dort als Gemeinwohlbeitrag anerkannt wird. Das soll notfalls mit einer Umverteilung von (Erwerbs-) Arbeit erreicht werden (Arbeit als knappes Gut); auf der anderen Seite jedoch hat sich die Lebensführung in einem Maße individuiert (nicht individualisiert!), dass Leistung und Sinnhaftigkeit nach eigenen Gütekriterin bestimmt werden, eine allgemeine Umverteilung und Vorschrift von Arbeitszeit oder Bestimmung von Gütekriterien ihr jedoch entgegensteht. Dieser Widerspruch droht nun gerade die Leistungsethik, die Grundlage des Wohlstandes ist, zu zerstören, weil an einer normativen Verpflichtung – der Erwerbsarbeit – festgehalten wird, denn sie entsprich den individuierten Lebensentwürfen nicht mehr. Diese Schlussfolgerung ist es, die die Analyse, auch wenn vom Grundeinkommen in ihr keine Rede ist, dennoch aktuell erscheinen lässt. Sie hebt nämlich die Basis von Wohlstand, die individuierte Leistungsbereitschaft, heraus, die in der Regel unterschätzt, wenn nicht gar in ihrer Bedeutung kleingeredet wird – das Stichwort „Anreiz“ sei zum Hinweis genannt.

Oevermanns Einsichten, das sei erläuternd beigefügt, rühren aus einem Forschungsverständnis, dass sich die Welt nicht anhand hoch aggregierter quantifizierter Daten erschließt, wie sind in weiten Teilen der Sozialwissenschaften verwendet werden, sondern auf der Basis von Fallrekonstruktionen (siehe hier und hier). Sie geben reichhaltigen Einblick in konkrete Lebensvollzüge und erlauben es, handlungsleitende Überzeugungen und Motivationen detailliert zu bestimmen, die in quantitativen Erhebungen lediglich verschüttet werden.

Sascha Liebermann

„Volksentscheide auf Bundesebene – mehr Demokratie wagen?“

So lautete ein Beitrag im ARD-Magazin Kontraste, dass sich mit dem Volksentscheid beschäftigte. Die Einwände dagegen, hier verkörpert durch einen CDU-Politiker, entsprechen in mancher Hinsicht denjenigen gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen. Sehen Sie selbst.

Frühere Kommentare von uns zu diesem Thema – hier und hier.

„Wer ist für Freibier, wer würde die Runde schmeißen?“

Am 28. Juni fand in Frankfurt unter dem Titel „Vom Freelancer zum Faulenzer“ eine Diskussion über Grundeinkommen statt. Im nachstehenden Zusammenschnitt (von ESA-Film) ist besonders eines interessant, wie nämlich die Wirtschaftsredakteurin der FAZ, Heike Göbel, auf die Ausführungen Enno Schmidts reagiert.

Die Bürgergemeinschaft wird dabei vor allem als Bilanzgemeinschaft (Teil 1) gedeutet, in der die einen für die anderen zahlen. Dass in einer Bürgergemeinschaft eine grundlegende Abhängigkeit aller von allen als Solidargemeinschaft besteht (siehe „Althaus Radikalkur“, „Wer von der Gemeinschaft Geld bekommt…“ und „Einer Übermacht von Zauberern…“), wird gar nicht gesehen. Darüber hinaus wird auch nicht in die Betrachtung einbezogen, welchen Wert für das Gemeinwesen Fürsorge in den Familien und Freiwilligenengagement haben. Frau Göbel würde wohl die Fremdbetreuung von Kindern sowie die erwerbsförmige Organisation von Freiwilligenengagement für wertschöpfend halten. Solange sie nicht erwerbsförmig erbracht werden, sind sie „volkswirtschaftlich“ zu vernachlässigen. Auf diese Weise lässt sich aber nicht der Stellenwert der verschiedenen Bereiche in einer Volkswirtschaft oder treffender: in einem Gemeinwesen begreifen. Alle sind gleichermaßen unerlässlich.

Sehr interessant ist auch im dritten Teil die Bemerkung von Frau Göbel, ob mit dem BGE eine „Gesellschaft“ sich nicht billig aus der Verantwortung stehle. Sagen das nicht sonst Gewerkschafter und „Linke“? So groß sind die Gemeinsamkeiten und so geringe die Unterschiede beider mit Wirtschaftsliberalen – einig sind sie sich in der Ablehnung des BGE.

Sehen Sie selbst: Teil 1, Teil 2, Teil 3

„Verbrämte Statistik“ – Was sagen die Arbeitsmarktzahlen aus?

Unter diesem Titel hat Ulrike Herrmann schon Ende Juni das allmonatliche Ritual kommentiert, mit dem die Bundesagentur für Arbeit die Arbeitsmarktzahlen präsentiert. Der Kommentar erinnert daran, was diese Statistik aussagt und worüber sie schweigt.

Statistiken sind im allgemeinen mit Vorsicht zu genießen. Denn solange man nicht weiß, was nach welchen Verfahren mit welchen Fragen erhoben wird, ist auch nicht zu ermessen, was aus den Daten geschlussfolgert werden kann. Was sie bestenfalls hergeben, sind Wahrscheinlichkeiten, sie erklären jedoch gar nichts (Siehe auch Walter Krämer, So lügt man mit Statistik, ein interessantes Buch, der Titel ist etwas irreführend, siehe Einleitung; siehe auch einen Vortrag über Statistikausbildung in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften).

Was die Kommentatorin indes nicht aufgreift, ist der Umstand, dass eine solche Statistik überhaupt nur misst, was sie per definitionem messen soll und das dies wiederum davon abhängt, nach welchem Modus das Gemeinwesen seine Bürger alimentiert. Wenn wir ein bedingungsloses Grundeinkommen hätten und jeder, weil es ausreichend hoch wäre, abgesichert wäre; wenn es also keiner Meldung bei der Agentur für Arbeit bedürfte, um eine Absicherung zu erhalten, dann bräuchte es auch diese Statistik nicht. Folglich würden wir über „Erwerbslosigkeit“ nicht mehr in der Form sprechen, in der wir es heute tun, wir würden uns vielmehr fragen, was wir tun müssen, um die Freiräume zur Selbstbestimmung zu vergrößern.

Sascha Liebermann

Öffentliche Anhörung zur Petition von Susanne Wiest – Aktionen zuvor

Am 8. November soll die Anhörung zur Petition von Susanne Wiest stattfinden. Inzwischen sind Veranstaltungen oder Aktionen in Vorbereitung, die die dazu beitragen wollen, dass das bedingungslose Grundeinkommen bis dahin mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhält.

Das Archiv Grundeinkommen hat folgenden Vorschlag eines BGE-Befürworters veröffentlicht:

Er regt „Gespräche in den Bürgersprechstunden der Abgeordneten des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages an, um diese auf die BGE-Anhörung am 8.11.2010 vorzubereiten und über das BGE zu informieren. Fast alle Abgeordneten unterhalten eine persönliche WebSite und ein Wahlkreis- bzw. Bürgerbüro, über welches man mit ihnen in Kontakt treten kann. Diese Websites sind unter diesem Link schon mal zusammengesammelt.“

Weiterhin soll eine Demonstration am 6. November stattfinden, die den Höhepunt einer Kamapgane bildet die heute startet. Näheres finden Sie auf der Seite der Aktion „Unternimm das jetzt!“, unterstützt wird sie von „Global Change“
(Wir rätseln über die intransparente Darstellung von Global Change auf ihrer Website. Kaum findet man genannte Personen, die dahinter stehen, außer einem der Gründer. Auch erfährt man wenig darüber, wer welche Ämter innehat. Machen Sie sich selbst ein Bild)

Von 6. bis 8. August findet gibt es Grundeinkommensveranstaltungen im Rahmen des Friedensfestivals am Brandenburger Tor.

Wieder einmal: Volksentscheid am Pranger

Nach der Hamburger Entscheidung zur Primarschule wird wieder Gericht über den Volksentscheid gehalten. Es wäre zwar auch interessant, sich mit den Argumenten von Gegnern und Befürwortern der Primarschule auseinanderzusetzen, dem gilt aber hier nicht unsere Aufmerksamkeit. Wer sich für unsere Ansichten zu Bildung interessiert, sei auf den Text „Erfahrung ermöglichen oder Wissen vermitteln?“ verwiesen. Will man etwas über das Demokratieverständnis erfahren, das in der Öffentlichkeit herrscht, sollte man diese Artikel als Dokumente lesen. Es ist erstaunlich, was dort in den Volksentscheid hineininterpretiert wird, es ist ebenso erstaunlich, wie wenig Vertrauen in die Bürger herrscht, Entscheidungen womöglich zu revidieren. Ein Volksentscheid schafft zwar einen Beschluss, er zementiert aber nicht Verhältnisse auf ewig. Die Entscheide müssen (zumindest in der Schweiz) auch mit der Verfassung in Einklang stehen, andernfalls können sie nicht umgesetzt werden. Es ist also keinesfalls so, dass damit aufgehoben werden kann, wozu sich ein Gemeinwesen qua Verfassung bekennt, z.B. die Menschenrechte. Gegen ihn kann wiederum für bessere Vorschläge geworben werden. Nicht von ungefähr wird in einigen Artikeln auf die Entscheidung der Schweizer zum Minarettverbot Bezug genommen. Gerade diese Entscheidung allerdings zeigt sehr deutlich, welche Chancen der Volksentscheid birgt: er schafft eine Entscheidung, über die öffentlich gestritten werden kann, eine wirkliche Entscheidung und nicht etwa nichtsnutzige Umfrageergebnisse.

Siehe auch unseren früheren Kommentar

Eine Auswahl der Kommentare:

Süddeutsche Zeitung
Frankfurter Rundschau
Die Zeit
TAZ
Nachdenkseiten (Punkt 1 bis 3)