…auf diese Frage könnte man das Streitgespräch zwischen Marcel Fratzscher und mir bringen, das im Deutschlandfunk, in der Sendung „Streitkultur“, am 17. März gesendet wurde.
Schon zu Beginn wurden die Differenzen deutlich. Marcel Fratzscher sorgt sich um die Menschen und möchte ihnen Verantwortung und Chancen geben (ganz ähnlich wie Christoph Butterwegge hier und hier), ich plädierte dafür, ihnen die Verantwortung nicht geben zu müssen, sondern sie ihnen zu lassen, statt sie ihnen zu nehmen. Denn geben kann ich nur etwas, dass jemand vorher nicht hatte. Menschen, genauer: Bürger, haben aber immer Verantwortung, darum kommt niemand herum. Wer nun auf den Gedanken kommt, sie ihnen geben zu müssen, kann nur der Auffassung sein, sie hätten sie nicht ohnehin. Für die Sozialpolitk ist diese Haltung folgenreich, weil sie dann zum Ziel haben muss, diese Verantwortung herzustellen, durch Fördern und Fordern. Damit hat man die Bürger dann entmündigt, um so besser für sie sorgen zu können. Geht man hingegen davon aus, dass die Verantwortung für das eigen Leben beim Einzelnen liegt, dann muss man sicher eher fragen, wie man ihn in der Wahrnehmung der Verantwortung unterstützen kann. Die sich dann stellende Frage führt zu einer autonomiefördernden Sozialpolitik, also einer, die ihn nicht in eine Richtung drängt, sondern im ermöglicht, die Verantwortung, soweit es geht, selbst wahrzunehmen. Dazu gehörten z. B. echte Beratungsangebote statt Zwangsberatungen, die in Vorladungen ausgesprochen werden, die offiziell als „Einladung“ daherkommen.
Wie so oft bei BGE-Diskussionen sind Fratzschers Einwände keine, die das BGE treffen, sondern sie greifen erst, wenn bestimmte Unterstellungen gemachte oder Annahmen gesetzt werden. Die Sorge, der Staat könne die Menschen alleine lassen, wie Fratzscher sie mehrfach – auch an anderer Stelle schon – geäußert hat, ist noch allemal eine gute Begründung dafür, die Bürger zu entmündigen. Als sei es nicht so, dass er sie heute, ohne BGE, eben in vielerlei Hinsicht alleine lässt.
Wer echte Angebote will, die nicht mit Sanktionsdrohungen einhergehen, muss den Sozialstaat auf ein anderes Fundament stellen, auf eines, dass Mündigkeit, Selbstbestimmung und die bedingungslose Geltung der Grundrechte in unserer politischen Ordnung ernst nimmt. Solange das nicht geschieht, bleibt der Sozialstaat einer, der vorgibt, wohin sich jemand zu entwickeln hat. Dazu steht Fratzscher, das hält er für solidarisch, er sprach in der Diskussion vom Geben und Nehmen, das zu Solidarität gehöre, sie sei keine Einbahnstraße. Die Frage ist aber, welches Geben und Nehmen? Fratzscher bezog das nur auf Erwerbstätigkeit, wie sein Verweis auf alternative Modelle wie den Lebenschancenkredit erkennen ließ. Geben und Nehmen in einer Demokratie wie der unseren heißt aber, die Autonomie der Bürger radikal anerkennen, wie in den Grundrechten, und dann davon ausgehen, dass sie sich einbringen – was sie tatsächlich auch ohne Sanktionsinstrumente tun. Wer das bezweifelt, lebt mit einer Demokratie gefährlich und muss stärker auf Beaufsichtigung setzen. Wenn Fratzscher am Ende meint, die Vorstellung der BGE-Befürworter sei naiv, müsste ihm entgegnet werden, naiv ist, an einer Autonomie zu zweifeln, die längst Realität ist, die aber offenbar manche nicht wahrhaben wollen.
Sascha Liebermann