„Der Mensch kann nicht irgendein Leben führen, sondern nur sein eigenes“ – Entwicklungsforscher Remo Largo ist verstorben…

…darüber berichteten verschiedene Tageszeitungen, ein differenzierter Nachruf findet sich in der Neuen Zürcher Zeitung hier, eine persönlichere Würdigung von Linard Bardill findet sich im tagblatt. Das letzte oder eines der letzten Interviews ist in der Basler Zeitung veröffentlicht worden, siehe hier. Verschiedene Vorträge Largos wurden aufgezeichnet (siehe hier), ein im vergangenen Juni ausgestrahlter Beitrag der teleakademie des SWR über „Normale Entwicklungskrisen bei Kindern“ findet sich hier.

Weshalb soll hier ein kurzer Blick auf Largos Forschung und seine Thesen geworfen (unsere Beiträge dazu hier) werden, wo wir doch sonst nur Beiträge publizieren, die im weitesten Sinne mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen zusammenhängen?

Der Grund dafür ist schnell benannt: Largo hat sich, als Entwicklungsforscher und Arzt, mit Fragen beschäftigt, die ins Zentrum eines Bedingungslosen Grundeinkommens führen, weil sie sich mit den Entwicklungsprozessen vom Säugling bis zum Erwachsenen (Ontogenese) befassen. Sie sind das Fundament für alle späteren Fähigkeiten, das Verhältnis zu Individualität und Gemeinschaft, gelebte Autonomie, Leistungsbereitschaft usw.

In den letzten Lebensjahren, in denen er zunehmend grundsätzliche Fragen des Zusammenlebens thematisierte, kam er nicht nur auf ein BGE zu sprechen, er hielt es für wichtig. Das erste Mal in Publikationsform äußerte er sich in dieser Form in dem Buch „Das passende Leben“ (siehe ein Interview dazu hier).

Am Zürcher Kinderspital leitete er die Zürcher Longitudinalstudien, Langzeitstudien zur kindlichen Entwicklung, deren Befunde die Grundlage seiner später so erfolgreichen Bücher wie Babyjahre und auch Kinderjahre sind. Diese Langzeitstudien suchen ihresgleichen in der Welt. Wie in etlichen Nachrufen zu lesen, unterscheidet Largos Bücher von anderen zu diesen Fragen, dass sie keine Erziehungs- oder Ratgeberliteratur bieten. Wer danach in ihnen sucht, wird nicht fündig werden. Largo hat zwar etliche scharfe Einsichten in die Öffentlichkeit getragen, ist aber nie marktschreierisch aufgetreten, wie es von anderen Autoren in diesem Feld der Fall ist. Die von ihm geleiteten Studien und die damit einhergehende Praxis zur Beratung für Eltern und ihre Kinder räumte mit etlichen Vorurteilen und verkürzten Vorstellungen davon auf, wie Entwicklungsprozesse sich bei Kindern vollziehen. Ob es um die motorische Entwicklung hin zum Laufen, den Spracherwerb oder anderes geht, Largo machte deutlich, dass Kinder zwar dieselben Phasen der Entwicklung durchlaufen müssen, aber keineswegs zum selben Zeitpunkt und nicht in allen Formen, vielmehr gibt es eine große zeitliche Spanne, innerhalb derer diese Entwicklung erfolgt. Der Vorstellung von einer „Normalentwicklung“ zu definierten Alterszeitpunkten erteilt er damit eine Absage. Weil Altersdifferenzen in demselben Jahrgang erheblich sind, stellte er damit auch den jahrgangsbezogenen Schulunterricht in Frage. Über die Altersspanne hinaus vollziehen sich die Entwicklungsphasen auch nicht auf dieselbe Weise, so z. B. führt die Entwicklung zum Laufen nicht über die gleichen Stufen vom Rollen/ Robben, über das Krabbeln, sondern manche Kinder krabbeln eben nicht, sie hopsen und stehen dann auf und laufen. Ähnliches gilt für das „Trockenwerden“, also das Beherrschen und Regulieren der Ausscheidungen. Ein Training helfe hier nicht weiter, es verzögere diese Entwicklung sogar.

Largo betonte immer wieder, wie sehr diese Entwicklung von den Sozialbeziehungen und ihrer Qualität abhängig ist (Stichwort Bindung), die ebenso bedeutsam sind dafür, ob Kinder auf ihre Eltern hören. Largo scheute sich nicht, altertümlich klingende, dem Zeitgeist fremde Begriffe zu verwenden, wie z. B. vom Gehorsam bei Kindern zu sprechen. Er erklärte ihn aber ganz anders als gewöhnlich, nicht als Ausdruck unangefochtener Autorität, sondern als Resultat von Bindung. Wo sie nicht vorliege, seien Beziehungen nicht belastbar und Kinder würden ihren Eltern nicht folgen, womit keineswegs Unterwerfung gemeint ist, sondern Vertrauen in ihre Fürsorge. Die Folge eines solchen Blickes auf Entwicklungsprozesse ist ein anderes Verständnis davon, wie Handeln entsteht, eben nicht durch „Anreize“ oder Motivierung von außen, wie es nicht selten von Eltern zu vernehmen ist und heute zum Repertoire des vermeintlich gebildeten Redens über Leistungsbereitschaft gehört. Largo stellte fest, dass Kinder sich grundsätzlich entwickeln wollen, dieser Drang sei leicht zu erkennen, könne aber sehr wohl behindert oder aufgehalten werden. Wenn Kinder etwas nicht wollten, dann wäre er nie auf den Gedanken verfallen, sie könnten faul sein, schlicht antriebslos oder unmotiviert. Er stellte sich die Frage, wie es dazu kommt, dass sie nicht wollen und ob womöglich die an sie herangetragenen Erwartungen das Problem sind. Nicht von ungefähr lautet ein immer wieder von ihm selbst zitierter Ausspruch „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“, der noch ergänzt werden könnte damit, dass, wenn man zu fest zieht, es ausreißt.

Damit Beziehungen entstehen und sich festigen können, braucht es Zeit füreinander. Beziehungen entstehen nicht durch Lektüre von Büchern (auch nicht Erziehungsratgebern) oder geplante Aufeinandertreffen („quality time“), es bedarf gemeinsamer Zeit, damit Erfahrungen gemacht werden können. Erst dann sind Eltern in der Lage, ihre Kinder in ihrer Individualität zu verstehen. Da diese sich entwickeln und verändern, benötigen aber ebenso Eltern Zeit, um diese Veränderungen wahrzunehmen und zu verstehen. Wie sehr es daran mangelt und die Lage sich noch verschlechtert hat, kritisierte Largo vor allem mit Bezug auf die Schweiz, wie viele seiner tagespolitischen Bezugnahmen vor diesem Hintergrund verstanden werden müssen.

Bei allem öffentlichen Engagement blieb er doch immer Forscher, seine Neugierde war immer präsent, ebenso seine Faszination für das Entdeckte und das Erstaunen über die Entwicklung, die Kinder nehmen. Um so mehr kritisierte er die mangelnde Bereitschaft hinzuschauen, Kinder in ihrer Konkretheit ernst zu nehmen und sie nicht an Standards zu messen.

Sascha Liebermann