…, die Behauptung passt gut zu meinem gestrigen Beitrag zur vermeintlichen „poverty trap“. Hier die wörtlichen Ausführungen Martin Kochers, Arbeitsminister Österreichs in einem Interview mit Der Standard. Kocher antwortet auf die Frage danach, was er von der Erhöhung des Arbeitslosengeldes halte:
„Kocher: Hierzu gibt es kaum Studien, es gab aber auch zuvor nicht solch eine Ausnahmesituation. Wir wissen aber, dass der Anreiz, sich einen Job zu suchen, sinkt, wenn das Arbeitslosengeld zu hoch ist. Das ist für sich genommen eine Binsenweisheit. Es geht also darum, wie das Modell aussieht. Deshalb war ich Verfechter eines Modells, wonach die Entschädigung am Anfang höher ist und dann absinkt. Generell würde ich es als schlecht empfinden, jetzt in der Krise das System zu ändern.“
Von wegen Binsenweisheit, ein Klischee ist diese simple Formel und nur aufrechtzuerhalten, wenn Befunde aus der dynamischen Armutsforschung nicht zur Kenntnis genommen werden. Wiederholt ist von verschiedener Seite darauf hingewiesen worden, dass es den schlichten Zusammenhang zwischen Höhe von Arbeitslosengeld oder anderen Einkommenssubstituten nicht gibt und die Behauptung nur am Leben erhalten werden kann, weil bestimmte Annahmen gesetzt werden.
Immerhin ist ihm offenbar der Effekt einer strukturellen Stigmatisierung von Arbeitslosen nicht fremd, gleichwohl scheint er nicht zu sehen, dass diese Stigmatisierung den Status der Person um ihrer selbst willen unterminiert, der für eine Demokratie maßgeblich ist.
Es finden sich in dem Interview allerdings noch andere interessante Passagen:
„Kocher: Diesen Auftrag kann man als Arbeitsminister nur dann erfüllen, wenn man darauf achtet, nach der Pandemie möglichst viel an Beschäftigung zu schaffen. Dafür braucht es die Zusammenarbeit zwischen allen relevanten Ressorts.“
Auch für ihn gilt also, „Beschäftigung“ zu schaffen als Ziel – nicht aber vorrangig Wertschöpfung, die es auch ohne Beschäftigung geben kann (siehe unseren Beitrag hier). Um Leistungserstellung geht es also nur an zweiter Stelle (siehe z. B. hier). Dann zu Wissenschaft und Wert(urteils)freiheit:
„STANDARD: Sie werden als unabhängiger Experte gelobt. Gibt es überhaupt den objektiven Wissenschafter, der wertfrei agiert?
Kocher: Nein. Jeder Wissenschafter hat auch ein Wertefundament. Aber es gibt Bereiche mit klarer Evidenz. Das heißt nicht, dass es nicht ideologische Gründe gibt, dieser nicht zu folgen. Aber es ist wichtig, über Evidenz zu sprechen.“
Hieran erkennt man, wie krude die Diskussion um die Werturteilsfreiheit von Wissenschaft geführt werden kann und geführt wird. Max Weber (siehe auch hier und hier) hat gerade deutlich gemacht, dass es nicht darum gehen kann, ob ein Wissenschaftler ein Wertfundament habe oder nicht, das habe er selbstverständlich, weil er die Frage nach dem Sinn seines Handelns in der Welt als Bürger eines Gemeinwesens beantworten muss, das erfordert eine praktische Stellungnahme und damit Wertbindung. Diese Haltung zur Sinnfrage dürfe aber keine Rolle in der wissenschaftlichen Analyse von Sachverhalten spielen, weil sie sonst zu Voreingenommenheit führe. Als Mensch der Praxis, als Bürger eines Gemeinwesens – hier frei formuliert – habe man seine und des Gemeinwesens Interessen wahrzunehmen und dabei immer die Frage zu beantworten, wie soll etwas gestaltet werden. Eine Analyse hingegen hat zutage zu fördern, was die Sache, mit der sie sich befasst, auszeichnet, wie Handeln „ursächlich zu erklären“ ist. Wer die Welt verändern wolle, müsse den Vorlesungssaal verlassen und sich in den politischen Streit begeben; wer Wissenschaft betreiben wolle, müsse sich davon fernhalten. Eine Person kann beides, muss dabei aber jeweils der entsprechenden Handlungslogik folgen. Für die Wissenschaft ist es wichtig, gerade weil es nie auszuschließen ist, dass Werturteile in die Analyse hineingreifen, auszuweisen, auf welcher Datenbasis welche Schlussfolgerungen gezogen werden und zu prüfen, ob sie gedeckt sind. Ob man die Befunde dann für praktisch wertvoll, richtig oder sinnvoll hält, ist eine praktische Frage.
Sascha Liebermann