Viele Jahre liegt es zurück, da gab Philippe Van Parijs, anlässlich des Grundeinkommenskongresses 2005 in Wien, neues deutschland ein Interview. Es war die Zeit, als die BGE-Diskussion wieder in Gang gekommen ist (zu Entstehung und Verlauf der Debatte siehe hier und hier), die dazu beigetragen hat, dass der Vorschlag heute seinen festen Platz in der sozialpolitischen Diskussion hat. Van Parijs spricht im Interview über seine Anfänge in der Beschäftigung mit der Idee, über BIEN, dessen Gründungsmitglied er ist, und äußert sich zum Slogan „Freiheit statt Vollbeschäftigung“, mit dem meine Mitstreiter und ich damals anfingen, uns für eine öffentliche Debatte einzusetzen. Was sagte Van Parijs?
„Nicht alle Grundeinkommensbefürworter – auch auf dem Kongress – stimmen damit überein, dass der Begriff der Arbeit so eng an das Grundeinkommen geknüpft ist. Das kann zu Missverständnissen führen.
Das habe ich gemerkt. In Deutschland gibt es eine kleine Organisation für die ich Sympathie habe. Aber ihren Slogan: »Freiheit statt Vollbeschäftigung« kann ich nicht gutheißen. Für mich ist das nicht die richtige Opposition. Bezahlte Arbeit darf zwar nicht das einzige Ziel im Leben sein aber man sollte auch nicht einen derartigen Kontrast zwischen Grundeinkommen und Vollbeschäftigung herstellen. Wenn man Vollbeschäftigung nicht als Vollzeitarbeit für alle deutet, sondern als Möglichkeit für alle Leute, die eine Arbeit wollen, eine Arbeit zu finden, bekommt der Begriff eine ganz andere Dimension. Grundeinkommen bedeutet nicht die Arbeit aufzugeben. Im Gegenteil – es ist eine Möglichkeit, dass die Leute wieder aktiv werden. Zur Zeit gibt es eine repressive Form des aktiven Sozialstaates – wie in Deutschland Hartz IV. Aber es gibt auch eine emanzipatorische Form des aktiven Sozialstaates: das Grundeinkommen.“
Van Parijs äußert sich deutlich ablehnend gegen unseren Slogan, der von Anfang an für Missverständnisse sorgte (siehe hier), er setze nicht die „richtige Opposition“. Worin besteht der „Kontrast zwischen Grundeinkommen und Vollbeschäftigung“, den er ausmacht? Zwar sieht er, dass Arbeit, also Erwerbsarbeit, nicht das einzige Ziel im Leben sein dürfe, doch sei es wichtig, dass es Arbeitsmöglichkeiten gebe, wenn jemand sie suche. Damit müsse keine Vollzeiterwerbstätigkeit verbunden sein. Diese Argumentation führte damals schon in Richtung einer Jobgarantie, allerdings unter Voraussetzung eines BGE – mit alle ihren Problemen. Unser Slogan formuliert hier in der Tat einen Gegensatz, der sich bei aller polemischen Zuspitzung vor dem Hintergrund der deutschen Diskussion versteht. Als wir im Jahr 2003 mit diesem Slogan an die Öffentlichkeit traten, war, wie schon unter Helmut Kohl, Vollbeschäftigung das entscheidende politische Ziel, als hänge das Wohlergehen eines Gemeinwesens davon ab. Es war mehr als nur eine arbeitsmarktpolitische Zielsetzung, sie drängte andere in den Hintergrund. Vollbeschäftigung war der Inbegriff dessen, dass möglichst viele arbeitsfähigen Personen auch einen Arbeitsplatz innehaben. Der „faule Arbeitslose“ war das Schreckgespenst, mit dem heraufbeschworen wurde, worum es ging. Sozialwissenschaftler, die sich heute so womöglich nicht mehr äußern würden, Wolfgang Streeck und Rolf Heinze, griffen das auf und sprachen davon, dass „(fast) jeder Arbeitsplatz […] besser als keiner“ sei. Im selben Jahr äußerte sich Oskar Lafontaine entsprechend, der damalige Bundeskanzler Schröder zog erst später nach. Es war der Geist der Zeit, der im „Es gibt kein Recht auf Faulheit“ kulminierte, dessen rhetorische Präsenz heute verschwunden scheint, nicht aber die Haltung als solche. Freiheit jedoch, die in einer Demokratie immer nur Freiheit innerhalb der Regeln einer sich selbst bestimmenden politischen Vergemeinschaftung von Staatsbürgern sein kann, wollten wir dem entgegensetzen, um deutlich zu machen, dass Vollbeschäftigung für eine Demokratie nicht entscheidend ist, Selbstbestimmung aber ist entscheidend. Vollbeschäftigung im Sinne des volkswirtschaftlichen Konzepts kann eine Folge sein, muss es aber nicht. Dass sie eine solche Rolle spielte, ist nicht zu verstehen, ohne den normativen Stellenwert von Erwerbstätigkeit als einzig legitimierte Einkommensquelle zu berücksichtigen, daran hat sich bis heute nichts geändert. Darüber hinaus ist das Verständnis von Arbeit auf Erwerbsarbeit beschränkt. Van Parijs schien diese Zusammenhänge nicht oder anders zu sehen.
Während Van Parijs am Ende dieser Passage heraushebt, dass ein Grundeinkommen Aktivitäten ermöglichen soll, klingt das in der Folgepassage anders:
„Das Grundeinkommen soll die Menschen also zur Arbeit animieren, anstatt – wie zur Zeit üblich – durch soziale Zuwendungen Zwang auszuüben?
Richtig. Das Grundeinkommen ist ein Instrument für Vollbeschäftigung: es ist eine neue Methode der Arbeitszeitverteilung. Man macht es den Leute leichter, weniger zu arbeiten, weil ein Teil des Einkommens unabhängig von der Arbeit auf dem Konto ist. Deshalb wird es für Arbeitsuchende einfacher Jobs zu bekommen – nämlich die, die die anderen aufgeben. Ein anderer Aspekt ist die Subventionierung der wenig bezahlten Arbeit. Denn mit einem Grundeinkommen können die Leute frei entscheiden, ob sie den Job akzeptieren oder nicht. Wenn dann wirklich sie Situation eintreten sollte, dass keiner diese Jobs mehr machen will, müssten diese besser bezahlt, die Qualität der Tätigkeit verbessert oder durch Maschinen ersetzt werden.“
Van Parijs hätte hier, wenn es um einen wirklich weiten Begriff von Vollbeschäftigung gegangen wäre, sagen können, dass ein BGE die Möglichkeit dafür schaffen solle, sich dort einzubringen, wo es für wichtig und richtig erachtet wird, ganz gleich, ob diese Erwerbstätigkeit wäre oder nicht. Im Deutschen ist der Ausdruck „animieren“ nah an stimulieren. Dabei würde andersherum doch ein Schuh daraus, denn Animation brauchen die Bürger nicht, man sollte die Knüppel aus ihrem Weg nehmen, die dort hingelegt wurden. Auch die folgende Passage ist instruktiv:
„Mancher, auch auf dem Wiener Grundeinkommens-Kongress, stolperte über Ihre Forderung nach einem vorläufig relativ niedrigen Grundeinkommen.
Wir sollten anfänglich kleine Reformen anvisieren, die uns helfen, die ersten Elemente eines Grundeinkommens zu etablieren. Das wäre an erster Stelle die Einführung eines individuellen Grundeinkommens für jeden Bürger.
Ich denke aber, dass Erwerbsfähige zuerst ein niedrigeres Einkommen beziehen sollten – niedriger als der Rest der Bürger und als das heutige Sozialhilfeniveau. Das Grundeinkommen wäre für arbeitsfähige Bürger dann eine Art Sockelbetrag, auf den dann noch ein an Bedingungen geknüpftes Einkommen draufgesetzt wird. Die Summe der beiden Einkommensschichten muss dabei mindestens so hoch wie heute, wenn nicht noch höher sein. Der Sockelstatus macht es den Leuten dann aber möglich, sich aus ihrer Isolation zu befreien und über die Grenze der Sozialhilfe hinaus mehr zu verdienen…“
Das klingt geradezu paternalistisch, das BGE als sozialfürsorgerische Fördermaßnahme. Dabei könnte doch ganz darauf gesetzt werden, dass die Bürger dasjenige damit tun würden, was sie für wichtig hielten. Ob sie sich isoliert fühlen oder nicht, müssten sie selbst entscheiden. Ein BGE würde es immer möglich machen, über die Grenzen der Sozialhilfe hinaus zu verdienen, denn es wäre ja keine Sozialhilfe im alten Sinne. Weiter heißt es in dieser Passage:
„…Langfristig verfolge ich natürlich das Ideal eines höchst möglichen Grundeinkommens. Ich denke, dass wir zwar Ideale und »Wolkenkuckucksheime« haben müssen, aber man sollte nicht vergessen, dahin zu schauen, wohin man seine Füße bewegt. Deshalb brauchen wir in der heutigen Situation in erster Linie Schritte, die in die richtige Richtung gehen.“
Wie zu einem möglichst hohen Grundeinkommen gelangen? Diese Frage ist seit Beginn der Diskussion umstritten und immer wieder erörtert worden. Van Parijs hebt heraus, und zwar im positiven Sinn, dass es „Wolkenkuckucksheime“ geben müsse, doch ist ein BGE ein solches und gemessen woran? In der Konstruktion des deutschen Sozialstaates gibt es zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine Einführung, hier bedürfte es nur einer Umgestaltung. Gegenwärtig scheint es noch so zu sein, als seien wir weit entfernt von einer Einführung eines BGE. Das kann allerdings auch täuschen, denn wenn es darauf ankommt, kann sich das schnell ändern. Wann dieser Punkt erreicht ist, lässt sich aber nicht voraussehen, was also bleibt? Den eigenen Überzeugungen gemäß sich für diese Diskussion einzusetzen und die Argumente für ein BGE immer wieder zu prüfen wie auch zu schärfen. Das geht nur vor dem Hintergrund nationaler Problemlagen und politischer Kulturen, denn sie sind der Ausgangspunkt für jede Veränderung. Diese Debatte lässt sich zwar akademisch international führen, die Einführungsdiskussion aber benötigt den nationalen Bezug.
Sascha Liebermann