„Das Bürgergeldgesetz ist gescheitert“, aber wie genau?

Das Magazin focus gibt auf seiner Website ein Interview mit Essens Stadtdirektor Peter Renzel wieder, das in „Die Welt“ erschienen ist (Bezahlschranke, deswegen der Rückgriff auf focus für diese Anmerkung).

Was bemängelt Peter Renzel und was schlägt er vor (laut focus)?

Als eine „Art bedingungsloses Grundeinkommen“ würden Bezieher das Bürgergeld wahrnehmen, wird behauptet, nun das ginge an der Realität vorbei und wäre eine erstaunliche Umdeutung des sanktionsbewehrten, auf Beaufsichtigung setzenden Bürgergeldes, das nach wie vor nur eine „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ ist, wie es im Gesetz steht.

Schwarzarbeit sei ein Problem – die hat aber mit dem Bürgergeld nicht direkt zu tun, das sind zwei verschiedene Dinge, es sei denn Rentzel verknüpft das eine notwendig mit dem anderen im Sinne dessen, dass Schwarzarbeit aus dem Bürgergeld folge. Wie auch immer – Schwarzarbeit ist eine Verletzung eines anderen Rechts und kann entsprechend geahndet werden.

Arbeit gehöre wieder in den Mittelpunkt, fordert Renzel, aber genau das steht im Gesetz, denn das Bürgergeld ist eine „Grundsicherung für Arbeitsuchende„. Er sagt weiter:

„Die fehlende Bereitschaft, sich anzustrengen eine sozialversicherungspflichtige Arbeit aufzunehmen, ist viel höher, als gemeinhin angenommen.“

Nun ist im focus-Beitrag leider nicht erwähnt, worauf er sich dabei beruft, denn bislang gibt es vor allem die Zahlen der Bundesagentur und die sind keine Annahmen, sondern zuerst einmal Statistik. Man kann beklagen, dass diese Zahlen vielleicht nicht genügend erfassen, dann müsste man die Datenerhebung verbessern. Man könnte aber auch entgegnen, dass sie nicht differenziert genug erfassen, was hinter der Ablehnung eines Angebotes steckt. Immerhin gab es schon vor zwanzig Jahren eine Untersuchung, die sich mit den Beweggründen befasste und interessante Einsichten bietet (siehe hier), andere Studien folgten.

Dann sagt er:

„Im Jahr 2023 haben rund 50 bis 60 Prozent der Bürgergeld-Empfänger in Essen ihre Termine nicht wahrgenommen. Dann hat der Gesetzgeber nachgesteuert, heute liegen wir trotzdem noch bei 30 bis 40 Prozent.“

Betrachtet man sich die Statistik zu Leistungsminderungen im Grundsicherungsbezug wäre das ziemlich ungewöhnlich, die Sanktionsquote ist niedrig und recht konstant, das passt nicht zu „viele“:

Auch die Erkenntnisse zu Termin- bzw. Meldeversäumnissen sind nicht neu:

Als Zuständiger für das kommunale Jobcenter wird ihm das bekannt sein. Ist Essen ein Sonderfall? Da scheint so nicht zu sein, denn Renzel behauptet, seine Kollegen bundesweit machen ähnliche Erfahrungen.

Man muss immer hellhörig werden, wenn gesagt wird „Viele Kunden würden nicht mitwirken“. Was heißt das, relativ wozu, was sind genau die Gründe, ist die Erwartung einer Mitwirkung womöglich unrealistisch, weil sie an den Lebensumständen der Betreffenden vorbeigeht? – Wir erfahren das hier nicht, in der Studie, die oben erwähnt wurde, aber schon.

Folgendes Zitat im Beitrag ist aufschlussreich:

„Es vergeht keine Woche, ohne dass ich mit Arbeitgebern spreche, die mir sagen: ‚Bei mir tauchen Bewerber auf, die entweder absichtlich so auftreten, dass ich sie gar nicht einstellen kann, oder die mir direkt sagen: Nein, angemeldet werden möchte ich nicht, weil das mir auf mein Bürgergeld angerechnet wird. Also lieber schwarz – und bitte nicht am Wochenende oder abends.’“

Hier wird die Äußerung eines Dritten wiedergegeben und wir können nicht sagen, ob es sich so zugetragen hat, wie es dargestellt wird. Das sei hier vorab angemerkt. Diese Art von anekdotischer Evidenz klärt die Lage nicht auf, sie kann zu Fehldeutungen Anlass geben, wenn von ihnen aus verallgemeinert wird.

Das Phänomen als solches im ersten Teil ist nicht neu, denn die Verweigerung von Angeboten kann Sanktionen nach sich ziehen, also gehen auch diejenigen solchen Angeboten nach, für die sie nicht in Frage kommen. Der zweite Fall ist einer, der anders gelagert ist und unter die Schwarzarbeit fällt, die oben erwähnt wurde – das wird es immer geben, solange Schwarzarbeit bedeutet, Steuern und Abgaben zu umgehen. Auch hier gilt zum einen, dass man genau wissen müsste, warum die „Kunden“ sich so verhalten, zum anderen sollte man den Arbeitgeber fragen, ob er denn solche Mitarbeiter gebrauchen könnte für sein Unternehmen. Denn alles klagen geht an der Sache vorbei, wenn diese Bewerber ohnehin nicht geeignet wären. Personalmangel kann man wohl kaum damit begegnen, dass ungeeignete Mitarbeiter eingestellt werden. Wie formalistisch in diesen Fragen allerdings argumentiert wird, sieht man hieran:

„Wir haben einen sehr großen Bedarf an Arbeits- und Fachkräften. Wir müssen in unserem Land alles daransetzen, dass wir die Potenziale der Bürgergeldempfänger heben und diese nutzen. Sofern sie gesund sind, dürfen wir ihnen nicht durchgehen lassen, dass sie sich verweigern.“

Würde denn der Essener Stadtdirektor ungeeignete Mitarbeiter beschäftigen? Wie verhält es sich mit all den anderen, die sich nicht verweigern, die bezeichnenderweise gar keine Erwähnung finden (siehe hier)? Über verdeckte Armut wird kein Wort verloren (siehe hier und hier).

Abschließend dieser Vorschlag:

„Diejenigen, die keinem sozialversicherungspflichtigen Job nachgehen und weiterhin Bürgergeld beziehen, sollen laut Renzel zum Gemeinwohl beitragen – also etwa durch gemeinnützige Einsätze in Sport- und Parkanlagen oder Hilfe bei der Sauberkeit in den Stadtteilen.“

Diese Vorschläge gab es immer wieder, auch schon im letzten Jahrhundert, warum nicht als Angebot vorhalten, wobei die Diskussion dann sein wird, ob sie nicht mit regulärer Beschäftigung konkurriert. Außerdem sollte dieses Angebot nicht mit Qualifizierungsmaßnahmen kollidieren. Wie bei anderen Vorschlägen muss hier ebenso danach gefragt werden, weshalb jemand nicht zur Verfügung steht oder stehen kann – erst dann kann ihm wirklich geholfen werden.

Wie an vielen Beiträgen zur Diskussion um das Bürgergeld zeigt sich auch an diesem, wie sehr die normativen Ziele des Sozialstaats bestimmte Erwartungen hervorbringen, was Leistungsbezieher denn zu tun hätten. Das ist konsequent, ob es aber richtig und hilfreich ist, ist eine andere Frage. Diese Diskussionen würden wir anders führen können, wenn das Ziel des Sozialstaats nicht zuallererst die Rückführung in den Arbeitsmarkt wäre, doch das geht nur mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen.

Sascha Liebermann