Grundeinkommen individualistisch? Ein Missverständnis

Thomas Straubhaar hat in einem Beitrag für Die Welt im vergangenen Mai, „Warum Grundeinkommen gut zu den Piraten passt“, die Befürwortung eines Bedingungslosen Grundeinkommens durch die Piraten kommentiert. Darin findet sich die folgende Passage.

„…Das Grundeinkommen ist ein zutiefst individualistisches Konzept. Deshalb passt es so gut zu den Piraten. Weil das Grundeinkommen bedingungslos gewährt wird, verzichtet es auf jeglichen Paternalismus. Niemand macht Sozialtransfers an bestimmten Verhaltensweisen, Lebens- oder Familienformen fest. Niemand überprüft, ob es gute oder schlechte Gründe für eine Unterstützung gibt…“

„Individualistisch“? Zumindest ist diese Bezeichnung missverständlich, durch den „-ismus“ wird das Individuum vom Gemeinwesen separiert, beinahe als stünden sie gegeneinander. Zwar richtet sich das BGE in der Tat ans Individuum, aber nicht zu Lasten des Gemeinwesens, vielmehr zu seiner Stärkung. Das  Individuum als Bürger existiert nicht ohne ein Gemeinwesen, es wächst aus ihm hervor, aus Familie und politischem Solidarverband. Gemeinschaft ist Bedingung von Individuierung. Insofern sind beide notwendig aufeinander verwiesen, das eine ist nicht ohne das andere. Als Einkommen, das vom Solidarverband Gemeinwesen bereitgestellt wird, ist das BGE eben nicht nur auf das Individuum gerichtet, wie es in Wendungen wie „von der eigenen Hände Arbeit zu leben“ zum Ausdruck kommt. Ein BGE anerkennt, dass dieses Individuum von der Unterstützung des Gemeinwesens abhängig ist, damit es sich für das Gemeinwesen entscheiden kann. Individuen gibt es nicht ohne Gemeinwesen und anders herum gilt das auch. Es geht um einen elementaren Zusammenhang.

Weiter heißt es im Beitrag von Thomas Straubhaar:

„…Die Höhe des Grundeinkommens festzulegen, ist eine politische Entscheidung. Dabei gilt ein äußerst einfacher ökonomischer Zusammenhang: Ein hohes Grundeinkommen bedingt hohe Steuersätze, ein niedriges Grundeinkommen ermöglicht tiefe Steuersätze. Hohes Grundeinkommen und hohe Steuersätze verringern den Anreiz zu arbeiten, tiefes Grundeinkommen und tiefe Steuersätze verstärken den Anreiz zu arbeiten. Je höher der Anreiz zu arbeiten, um so einfacher wird das Grundeinkommen zu finanzieren sein, je geringer die Arbeitsanreize, um so weniger wird das Grundeinkommen finanzierbar sein…“

Das simplifizierte Anreiztheorem ist nicht in der Lage, Eigeninteresseverfolgung und Gemeinwohlbindung als Momente ein und derselben Handlungsmotivierung zu betrachten. Es reißt sie auseinander und setzt folgerichtig Egoismus auf die eine, Altruismus auf die andere Seite. Nicht Einkommenssicherheit, wie so oft, Steuerbelastung wird hier zum Beweggrund, nicht oder weniger zu arbeiten. Weshalb engagieren sich Menschen dann ehrenamtlich, wenn es sich doch nicht lohnt? Man könnte hier fragen, ob es überhaupt die Steuerbelastung ist, die für die Motivierung von Handeln eine Rolle spielt, ob nicht vielmehr die Steuerart zu betrachten wäre. Inwiefern trägt eine Steuer wie die Einkommensteuer, die nicht fragt, was mit Einkommen getan, wofür es eingesetzt wird (Investition oder Konsum), die sich einzig daraus rechtfertigt, vom verfügbaren Einkommen abzuschöpfen, inwiefern trägt sie zu einem bestimmten Gerechtigkeitsempfinden bei? Für ein Gemeinwesen ist es doch entscheidend, was Menschen tun, wie sie handeln und dass zwischen Bereitstellung von Leistungen und Verzehr ein Unterschied gemacht werden muss. Weshalb aber schon die Bereitstellungsphase besteuern, was die Einkommensteuer tut? Weshalb nicht erst den Verzehr und nur ihn besteuern? Die ganze Diskussion um Steuergerechtigkeit in Deutschland stellt diese Frage kaum. Der Blick richtet sich zu sehr auf das „Das“, das Einkommen, und nicht auf das „Wozu“, Leistungserstellung oder Verzehr. Damit wird gerade ein Phänomen bestärkt, was immer wieder beklagt wird, dass die Leute so sehr auf Geld, Geldverfügung, Geldhaben achten würden. Wer daran etwas ändern will, muss eine Diskussion über das Wie der Steuerabschöpfung führen.

„…Das Grundeinkommen ist nichts anderes als ein Steuerfreibetrag in Höhe des Existenzminimums – so wie er bereits heute in Deutschland allen gewährt werden muss. Damit ist auch ein anderer Vorwurf entkräftet, nämlich dass auch Gutverdienende das Grundeinkommen erhalten. Sie „finanzieren“ diesen Transfer schlicht durch die Bruttobesteuerung ihrer Einkommen. Im Gegenzug erhalten sie eine Entlastung durch das auch ihnen ausbezahlte Grundeinkommen. Im Endeffekt bleiben sie aber immer noch Steuerzahler. Somit gilt auch beim Grundeinkommen, dass wer besser verdient, netto immer noch mehr in die Staatskassen abführen muss, als jene, die weniger verdienen.“

Diese Betrachtung ist insofern angemessen, als Steuerentlastung (über den Freibetrag) und Steuerschuld in einem definierten Zeitraum (z.B. in einem Jahr) ins Verhältnis gesetzt werden. In zweierlei Hinsicht allerdings ist diese Äußerung schief. Es ist das zu garantierende Existenzminimum, aus dem sich Transferleistungen auf der einen, Steuerfreibetrag auf der anderen Seite herleiten – nicht umgekehrt. Deswegen ist das BGE auch kein Steuerfreibetrag, wenngleich es technisch so betrachtet werden kann. Von der Seite der Rechtfertigung ist es eine Einkommensgarantie, die das Gemeinwesen seinen Bürgern bereitstellt, weil sie Bürger sind – es ist also eine Leistung, die sich daraus herleitet, dass das Gemeinwesen Zweck um seiner selbst willen ist und deswegen seine Angehörigen schützen muss. Straubhaar spricht hier interessanterweise nur von der Einkommensteuer, aus der „Gutverdienende“ das Grundeinkommen finanzierten. Dabei fällt unter den Tisch, dass indirekte Steuern wie z.B. die Mehrwertsteuer etwa die Hälfte des Steueraufkommens ausmacht. Letztlich ist auch das noch ungenau, weil Ausgaben jeglicher Art eines Unternehmens, aus den Einnahmen bestritten werden müssen, deswegen die Ausgaben auch in den Preisen für Güter und Dienste landen müssen. Insofern ist die Einkommensbesteuerung nur formal relevant, praktisch wirksam wird sie in den Preisen.

Derselbe Thomas Straubhaar, der sich hier für ein Grundeinkommen ausspricht, feierte zugleich die vermeintlichen Erfolge der Hartz-Gesetze. Sonderbar.

Sascha Liebermann

„Wer glaubt denn, dass man so den Anreiz in einer Gesellschaft lebendig erhalten kann“ – eine Debatte im ZDF

In einem neuen Sendeformat des ZDF, Die Debatte, wurde über Generationengerechtigkeit diskutiert. Die Konfrontation misslang insofern, als alle Teilnehmer sie nicht so führen wollten, wie das ZDF es gerne gehabt hätte, um einen Knaller zu erzeugen. Die Diskussion war sachlicher, als der Titel erwarten ließ (siehe auch die Besprechung von Frank Lübberding).

An zwei thematischen Aufhängern allerdings wurde es aufschlussreich: am Bedingungslosen Grundeinkommen und an der Frage, wer für die Politik des letzten Jahrzehnts verantwortlich ist. Die Sprache auf das BGE brachte die politische Geschäftsführerin der Piratenpartei, Katharina Nocun zu Beginn und dann noch einmal als Reaktion (ab Minute 50’45) auf Kurt Beck, Ministerpräsident von Rheinland Pfalz a.D. Becks Entgegnung auf das BGE war drastisch und symptomatisch (ab Minute 48’35): „…Wer glaubt denn, dass man so [mit einem „bedingungslosen Mindesteinkommen“ oberhalb der Armutsgrenze, unabhängig davon, ob man „‚was schafft oder nicht“, SL] den Anreiz in einer Gesellschaft lebendig halten kann, das geht nicht, sie werden sehen, sie werden sicher scheitern…“. Drastisch ist diese Äußerung, weil Beck unserer Demokratie damit attestiert, scheitern zu müssen, obwohl sie gerade darauf beruht, die Bürger als ihr Fundament bedingungslos anzuerkennen – ohne Anreiz. Die bedingungslose Verleihung der Rechte als Bürger bringt genau zum Ausdruck, wovon Beck meint, das es nicht gehe. Seine Einschätzung geht also an den wirklichen Verhältnissen vorbei, sie verhöhnt sie geradezu. Er steht mit ihr allerdings nicht allein, sie ist allerorten anzutreffen (siehe diesen Beitrag oder auch hier). Genau diese Haltung des Bilanzierens ist es, die unser Gemeinwesen als Solidarverband zugrunderichten kann, weil sie nicht unterscheidet zwischen Leistung und Gegenleistung in einem Handeln, das auf einen bestimmten Zweck gerichtet ist (z.B. Tausch von Gütern und Diensten) und einem Handeln, das seinen Zweck in sich selbst trägt: die Anerkennung des anderen um seiner selbst, also eines Tausches um des Tauschens willen. Damit ist unsere Misere genau benannt: es mangelt an einem Bewusstsein davon, ein Solidarverband von Bürgern zu sein, der an erster Stelle steht und seinen Zweck in sich hat. Alles andere kommt danach. In der Grundeinkommensdiskussion wird, auch von Befürwortern immer wieder darauf hingewiesen, dass doch volkswirtschaftlich für das BGE argumentiert werden sollte. Damit würde allerdings der hier benannte Zusammenhang wieder übergangen, für ein Gemeinwesen ist die Solidarität die führende Dimension. Das entspricht dem Primat des Politischen in der Gestaltung unserer Lebensverhältnisse.

Heiner Geißlers Einwand gegen das BGE (ab Minute 52) zeugt auch nicht gerade von Nachdenklichkeit. Der „Zahnarztgattin“ – wiederum ein typisches Beispiel – ein BGE bereitzustellen, dafür sei kein Konsens zu erreichen, deswegen solle dieses Thema beseitegelegt werden. Außerdem habe angeblich Götz W. Werner während einer Zugfahrt mit Geissler selbst Zweifel am BGE geäußert. Angesichts der vehementen Befürwortung des BGE durch Herrn Werner bis heute kann man diese Anekdote getrost als strategische Instrumentalisierung abtun. Durch die Bezugnahme wollte er dem Thema womöglich den Wind aus den Segeln nehmen. Geißlers Beispiel Zahnarztgattin wiederum lässt tief blicken. Er unterschlägt, dass auch für sie ein Grundfreibetrag in der Einkommensteuer gilt, der sich aus der Verpflichtung des Gemeinwesens ableitet, das Existenzminimum unversteuert zu lassen. Sie erhält also heute schon etwas (wenn sie selbst kein Einkommen hat, dann über das Ehegattensplitting), das sie nicht braucht und dennoch haben wir dafür einen Konsens, deswegen gibt es diesen Freibetrag ja. Ein BGE könnte ihn ersetzen, dann hätten wir statt eines Freibetrags eine Ausschüttung von Einkommen – so könnten gleichermaßen andere Leistungen in derselben Höhe durch ein BGE ersetzt werden. So wäre auch ein Anfang für das BGE gemacht, der direkt am Bestehenden anknüpft und es zugleich transformiert. Es ist also nur eine Frage, in welcher Form diese Existenzsicherung bereitgestellt werden soll, das ist strittig, nicht die Existenzsicherung als solche.

Was Geißlers Ausführungen in der obigen Passage zur Erwerbsquote (Erwerbstätige zu Erwerbspersonen, siehe auch Erwerbspersonen nach dem ILO-Konzept) betrifft, scheint die Zahl von 90 Prozent für die Schweiz erheblich zu hoch gegriffen. Das Schweizer Bundesamt für Statistik spricht für das Jahr 2011 von 82,8 Prozent. Teilzeiterwerbstätigkeit beträgt 33,7 Prozent, wodurch die hohe Erwerbsquote in einem anderen Licht erscheint. Bei der Betrachtung von Statistiken müssen stets die Definitionen der Datenerhebung berücksichtigt werden. So ist die Anzahl derer pro Jahrgang, die ein Studium aufnimmt, in der Schweiz geringer als in Deutschland. Außerdem gibt es in der Schweiz nur vier Monate bezahlte Elternzeit, auch das wirkt sich auf die Daten aus. Davon ganz abgesehen ist die Steigerung der Erwerbsquote kein Selbstzweck. Gerade das Ziel einer Steigerung ist es, das Eltern dazu drängt, weniger lange für ihre Kinder zuhause zu bleiben.

Der andere thematische Aufhänger (ab Minute 32’19) ist die Frage nach der Verantwortung für die Politik der letzten Jahre. Frau Nocun und Herr Gründinger werfen diese Frage auf, erstaunlich sind vor allem die Entgegnungen von Herrn Beck. Er stellt heraus, dass selbst mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gegen diesen Zeitgeist nichts zu machen gewesen sei. Nun, dann war dieser Zeitgeist eben auch in der SPD, was er offen hätte sagen können, denn sie hat wesentliche Entscheidungen dazu beigetragen, Stichwort Agenda 2010, Private Altersvorsorge usw. Auch kann man als Politiker diesen Zeitgeist kritisieren und muss ihn nicht mittragen. Dieses Opfer war Herrn Beck dann vielleicht zu groß. Zu all dem kein Wort von ihm. Als Kritiker der Folgen dieser Agenda ist er bislang auch nicht aufgefallen. Seine oben zitierte Äußerung passt vielmehr in die Geisteshaltung der Bilanzzieher und Aktivierer. Heiner Geißler benennt am ehesten noch Ross und Reiter, verschont aber die Entscheidungsträger – auch aus seiner Partei – und kritisiert „Professoren“, als seien sie diejenigen gewesen, die Entscheidungen getroffen hätten. Eine sonderbares Ausweichmanöver, denn Berater beraten, Entscheidungen treffen Amtsinhaber und Mandatsträger.

Sascha Liebermann

„Freiheit statt Vollbeschäftigung“ bei Twitter – Vielen Dank für die Unterstützung

Wir sind darauf aufmerksam gemacht worden, dass bei Twitter unsere Blogposts eingestellt werden. Für diese Unterstützung bedanken wir uns bei der unbekannten Autorin, dem unbekannten Autor. Wir würden uns freuen, wenn die- bzw. derjenige sich bei uns meldet oder zumindest kenntlich macht, dass nicht wir die Autoren der Kurznachrichten sind.

„Uninspiriert, mutlos, seltsam“ – Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses online

Susanne Wiest liegt nun die schriftliche Begründung vor, mittels derer der Petitionsausschusses empfahl, die Petition zum Grundeinkommen Ende Juni abzuschließen. Noch in letzter Minute versuchten einige Abgeordnete, eine Anhörung im Bundestag zu erreichen. Als das nicht gelang, gaben sie eine persönliche Erklärung ab. So wichtig dieser Versuch war, andere mit ins Boot zu holen, so sehr lässt er einen verwundert zurück. Weshalb wird erst im letzten Moment damit begonnen, Unterstützer zu gewinnen? Seit Anfang Juni war bekannt, wann die Bundestagssitzung statt finden wird. Sagt uns das etwas darüber, wie ernst oder nicht ernst das Thema genommen wird?

„Uninspiriert, mutlos, seltsam“ – so fasst Susanne Wiest ihre Eindrücke zur Beschlussempfehlung zusammen, wütend macht sie die Begründung (PDF der Beschlussempfehlung). Das ist nachvollziehbar, denn die Begründung versammelt eine Reihe von Vorurteilen, Illusionen über den heutigen Sozialstaat und vermeintliche Schwierigkeiten der Einführung eines BGE. Sie zeigt allerdings auch deutlich, wie wichtig gute und klärende Argumente für die Diskussion sind, denn die Ablehnung zeugt von widerstreitenden Gerechtigkeitsvorstellungen. Die damit verbundenen Einwände spiegeln insofern authentisch die öffentliche Diskussion wieder, niemanden, der mit ihr vertraut ist, werden die Einwände überraschen.

Es bedarf einer Solidargemeinschaft, die das BGE auch zu tragen bereit ist, und diese Solidargemeinschaft bildet sich als Gemeinschaft der Staatsbürger (siehe auch meinen Beitrag in diesem Band). Es zeigt sich in den Einwänden – ganz wie in der öffentlichen Diskussion -, dass genau dieser Zusammenhang im öffentlichen Bewusstsein wenig bis gar nicht verankert ist. Unser Selbstverständnis als Gemeinwesen ist eben, trotz aller bürgerschaftlichen Lebenszusammenhänge, kein bürgerschaftliches. Nur auf dieser Basis aber ist eine souveräne (nicht autarke) Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens möglich. An einer Stelle verweist die Beschlussempfehlung auf die Folgen der Einführung eines BGE angesichts der Verflechtung mit der Weltwirtschaft. Dies kann als Flucht vor Verantwortung gedeutet werden, denn auch heute stehen wir vor der Aufgabe, tragfähige Antworten auf Zuwanderung zu finden. Daran änderte sich durch ein BGE, nichts, es entsteht also kein neues Problem. Es lässt sich dieser Verweis auf die Weltwirtschaft ebenso als Selbstentmündigung lesen, weil er ängstlich auf die Anderen schielt, statt die Gestaltung des Gemeinwesens in die Hand zu nehmen.

Der immer wiederkehrende Verweis auf die Menschenrechte und die Menschenwürde, der sowohl in der Beschlussempfehlung als auch in der Grundeinkommensdebatte angeführt wird, ist im Verhältnis zum konkreten Zusammenleben abstrakt. Die Menschenrechte sind nur so lebendig und wirkungsvoll, wie sie in einem Gemeinwesen in alltägliche Lebensvollzüge integriert werden, wie sie gelebt werden. Die Menschenrechte werden erst durch ein Gemeinwesen wirkungsvoll, nicht ohne es. Dazu bedarf es eines politischen Gebildes als unabdingbarer Voraussetzung, der Nationalstaat mit der universalistisch definierten Staatsbürgerschaft ist genau ein solches. Das behagt einigen nicht, das Unbehagen ist aber nicht die Lösung, sondern das Problem. Wer souverän gestalten können will, kommt ohne den Nationalstaat nicht aus. Er ist nicht ein Missgeschick der Geschichte oder eine leider zu erduldende Unannehmlichkeit; er ist Inbegriff politischer Gemeinschaft und so Ausdruck davon, selbst gestalten zu können.

In der Empfehlung wird unter anderem mit der Einzelfallgerechtigkeit des heutigen Sozialstaats argumentiert und sie dem BGE gegenübergestellt. Das mag sich gegen den Petitionstext von damals richten, doch Frau Wiest hat über die Jahre – und deutlich genug in der Anhörung – ihre Position differenziert. Das BGE steht gar nicht gegen bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen, es stellt sie jedoch auf ein anderes Fundament und schafft Entlastung dort, wo heutige Bezieher tatsächlich nur Einkommensmangel haben und weiter nichts benötigen. Denn, wo eine Einkommenssicherung über den Bürgerstatus begründet wird, stellt sich auch die Bedürftigkeitsprüfung anders dar. Die stigmatisierenden Effekte des heutigen Systems würden aufgehoben, das kann als entscheidender Effekt gelten. Er resultiert aus der normativen Umwertung des Sozialstaats im Dienst der Bürger, d.h. nicht mehr Erwerbstätigkeit wird zum legitimierenden Grund für Einkommen, sondern Angehörigkeit. So rückt die Gemeinschaft der Bürger ins Zentrum.

Allerdings, das sollte nicht übersehen werden, zeigt sich in den Eigenheiten der Arbeitsagenturen und Jobcenter nicht bloß ein System, das auf Bedürftigkeitsprüfung setzt. Das gibt es in anderen Ländern auch und es geht durchaus anders dort zu. Die Eigenheiten, auf die Inge Hannemann aus ihrer Erfahrung als Arbeitsvermittlerin hingewiesen hat, sind ebenso Ausdruck eines Selbstverständnisses als Gemeinwesen, das die Bürger als Staatsbürger nicht achtet. So erklärt sich die teils übermäßig devote Haltung von Anspruchsberechtigten, teils die herablassende und bevormundende Haltung von Mitarbeitern. Wer immer weiß, was für den anderen gut ist, sieht ihn nicht.

Fehlen darf auch der Hinweis auf den Arbeitsanreiz in der Empfehlung nicht und ebenso die Vorstellung, Erwerbsarbeit sei ursächlich für gesellschaftlichen Reichtum. Ja, wer würde leugnen wollen, dass sie ihren Teil beiträgt? Doch sie als alleinige Grundlage zu sehen, übersieht eben alles jenseits der Erwerbsarbeit, ohne das wir nicht leben könnten (siehe hier und hier). Wieder einmal wird in der Empfehlung die Frage aufgeworfen, weshalb denn denjenigen, die es nicht brauchen, ein BGE bereitgestellt werden sollte? Fragen wir denn heute, weshalb dieselben Personen, die kein BGE erhalten sollen, heute den Grundfreibetrag in der Einkommensteuer in Anspruch nehmen dürfen? Er leitet sich aus der Verpflichtung ab, ein Existenzminimum bereitzustellen (wie ALG II und andere Leistungen), in dem Fall hier: es unbesteuert zu lassen. Genau das ist der Anknüpfungspunkt für ein BGE – auch in dieser Hinsicht führt es nichts Neues ein, stellt es nur auf ein anderes Fundament.

Was nun, könnte man fragen? Frau Wiest hat aus der Art und Weise des Verfahrens Konsequenzen gezogen und erneut eine Petition eingereicht (siehe den Link oben). Die Beschlussempfehlung schickt sie an den Petitionsausschuss zurück. Was lassen sich für Lehren aus den Vorgängen zur Petition ziehen? Das Petitionsrecht ist defensiv, es bestärkt die abwartende Haltung der Bürger und kann durchaus Engagement unterlaufen. Solange die Bürger das BGE nicht zu ihrer Sache machen, wird es auch nicht kommen. Um dies zu erreichen, ist nötig, was den bisherigen Weg der Diskussion ermöglicht hat: öffentliche Debatte, sachlich, leidenschaftlich – aber nicht dogmatisch.

Sascha Liebermann

Gerichtstermin Inge Hannemann am 30. Juli

Inge Hannemann, von Ihrer Tätigkeit als Arbeitsvermittlerin suspendierte Mitarbeiterin des Jobcenter team.arbeit.hamburg, wehrt sich gegen die Entscheidung ihres Arbeitsgebers. Der nächste Verhandlungstermin ist am 30. Juli, um 12 Uhr, beim Arbeitsgericht Hamburg. Im Verfahren geht es auch darum, wie weit eine Arbeitsvermittlerin das Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben darf.