…dafür, welche Auswirkungen ein komplexes und in mancher Hinsicht intransparentes System von Sozialleistungen haben könnte. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen hat diesen Oktober eine Stellungnahme zur Reform der Grundsicherung vorgelegt und sich darin das Zusammenwirken verschiedener Leistungen angeschaut. Bekanntermaßen ist das Leistungsgefüge äußerst komplex, unübersichtlich und uneinheitlich. Uns soll hier aber nur interessieren, wie eindimensional über die Wirkungen von Leistungen darin gesprochen wird. Exemplarisch dafür ist folgende Passage:
„Das Bürgergeld bietet durch die Hinzuverdienstregelungen Anreize, eine Arbeit aufzunehmen. Der Anreiz, die Arbeitszeit zu erhöhen bzw. sich weiter zu qualifizieren, ist hier jedoch ab einem Bruttoeinkommen von 1.200 Euro ohne Kinder und 1.500 Euro mit Kindern nicht mehr gegeben, da dann sämtliche zusätzliche Einkommen mit dem Bürgergeld verrechnet werden. Dafür bietet knapp jenseits dieser Einkommensgrenzen das zweite Grundsicherungssystem weitere Arbeitsanreize, da hier das Nettoeinkommen mit dem Bruttoeinkommen erst einmal deutlich ansteigt. Allerdings bedingen die Anrechnungsregelungen für Wohngeld und Kinderzuschlag auch hier erneut weite Einkommensintervalle, in denen Arbeitsanreize entweder gar nicht (mit Transferentzugsraten von z.T. über 100 Prozent) oder nur in geringem Ausmaß vorhanden sind. Abbildung 1 zeigt dies exemplarisch durch den Ausweis der Bereiche, in denen die Grenzbelastung aus Sozialversicherungsbeiträgen, Lohnsteuern und Transferentzug für Haushalte bei über 85 Prozent liegt (in rot) und somit die Arbeitsanreize besonders gering sind.“ (Stellungnahme S. 16)
Wie in so vielen Stellungnahmen zu dieser Frage kreist die Erörterung der Zusammenhänge um eine einzige Dimension, und zwar die, ob und ab wann es sich „lohnt“ einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und wann das nicht mehr der Fall ist. „Lohnt“ es sich, heißt in größter Vereinfachung, wann erhalte ich mehr Geld, also, was bringt mir das, um es ganz salopp auszudrücken.
Trotz aller Forschungen (z.B. hier, siehe die differenzierte Betrachtung zu „Anreiz“ hier), die schon vor langem deutlich gemacht haben, dass diese Frage nicht so eindimensional gestellt und beantwortet werden kann, wird sie genauso eindimensional weiterhin gestellt. Fragen danach, inwiefern Erwerbstätigkeit erfüllend, für einen sinnvoll, Möglichkeit mitzuwirken und -zugestalten ist, werden hier nicht einmal in Betracht gezogen. Ausgegangen wird von der einfachsten Form eines Wirkmechanismus. Dabei gibt es selbst dort, wo der Begriff Anreiz ebenfalls Verwendung findet, so in der Motivationspsychologie oder der pädagogischen Psychologie differenziertere Betrachtung, die deutlich machen, dass es nicht um ein Ursache-Wirkungsverhältnis geht, das entlang einer Dimension gilt. Man beachte, wo der „Anreiz“ bei Walter Edelmann verortet wird und welchen Stellenwert er hat:
Er hat hier gerade nicht die Bedeutung, als Stimulus extrinsisch auf das Individuum zu wirken und etwa direkt zu bewirken, sondern gehört auf die Seite intrinsischer Anstöße oder Impulse. Interessant ist in diesem Verständnis auch, dass die Seite extrinsischer Motivation nicht der Ausgangspunkt von Handeln ist, sondern es nur verstärken kann. Es muss also ein Passungsverhältnis zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation, um in Edelmanns Worten zu sprechen, geben, damit überhaupt etwas geschieht. Davon ist in der Passage oben keine Rede. Darüber hinaus wirkt der „Anreiz“ gerade nicht von außen ein, er ist vielmehr innen, gehört zur Charakterformation der Person, wenn man das so nennen will. Die Wirkungen von außen sind also begrenzt.
Nichts nötigt dazu, die sozialmechanische Auffassung des Wissenschaftlichen Beirats vorauszusetzen, außer dieser beschränkt sich selbst auf eine solche Verkürzung. Hierzu ließe sich noch manches sagen, dazu gehört auch, dass der Begriff „Anreiz“ von seiner Semantik solche Missverständnisse durchaus befördert, weswegen er nicht geeignet ist, die Entstehung von Handeln zu erklären. Autoren wie Deci und Ryan verwenden ihn ebenso wenig in ihrer psychologischen Theorie der Selbstbestimmung und erlauben damit eine erheblich differenziertere Betrachtung der Zusammenhänge.
Frühere Beiträge von uns zur Kritik an der vereinfachten Argumentation mit „Anreizen“ finden Sie hier.
Sascha Liebermann