„Kleinbürgerliche Systemrelevanz“ – oder Kritik als Symptom und der blinde Fleck…

…so könnte ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente kommentiert werden, der zwar auf der einen Seite den Finger in die Wunde einer verkürzten Diskussion legt, nämlich der darum, welche Tätigkeiten von welcher Bedeutung in der gegenwärtigen Lage seien, dabei aber zugleich nur über Erwerbstätigkeit spricht und das Gemeinwesen sowie unbezahlte Arbeit ganz übersieht. Er fragt an einer Stelle:

„Wer ist nun also für das System wichtig? Diese Systemfrage, die da terminologisch mitschwingt, führt freilich in die Irre. Denn es geht ausnahmsweise mal nicht um den Kapitalismus – nicht direkt -, sondern darum, wer und wessen Arbeit so wichtig ist, dass sie den Erhalt der Infrastruktur und den alltäglichen Ablauf gewährleistet. Wer ist eigentlich too big to fail? Wessen pandemisches Scheitern können wir uns als Gesellschaft nicht leisten?“

Diese Frage hängt natürlich vom Maßstab ab, dabei ließen sich sicherlich eher, weniger und gar nicht entbehrliche Tätigkeiten ausmachen. Einfach ist das aber nicht. Dass an allen Tätigkeiten gegenwärtig Einkommen hängt, ist eine nicht minder relevante Frage. Weiter heißt es:

„Man sieht schon, diese Frage nach der Systemrelevanz ist an sich recht ungelenk und ja, auch ziemlich snobistisch. Im Grunde das Produkt einer Gesellschaft, die ganz sicher nicht klassenlos ist und noch immer das antiquierte Ständedenken in den Köpfen archiviert hat. Dort unterscheidet man nach wie vor zwischen wichtigen Leuten und entbehrlichen Mitläufern. Eine solche Denkweise kann sich eine hochgradig arbeitsteilige Gesellschaft aber eigentlich gar nicht leisten. In ihr spielt jede Tätigkeit in eine andere hinein; man bedingt sich werktätig, kaum jemand ist da entbehrlich.“

Das hängt nun davon ab, ob sich mehr Automaten einsetzen ließen, wodurch dann doch Arbeitskräfte entbehrlich werden könnten. Entbehrlich aber nur als Arbeitskräfte, in einer entscheidenden Frage aber nicht: als Bürger. Genau diese Frage taucht in dem Beitrag allerdings nicht auf und auch nicht entbehrlich in der Versorgung Angehöriger, z. B. Kinder. Abschließend heißt es:

„Systemrelevant sind wir fast alle. Die Unterscheidung zwischen wichtig und nichtig mag ja jetzt der Krise geschuldet sein: Realistischen Bezug hat sie aber nicht. Gut, ohne Börsenmakler können wir es momentan gut aushalten. Wobei die natürlich hochgradig systemrelevant sind. Wobei damit etwas ganz anderes gemeint ist …“

Hier wird ein entscheidende Differenzierung, die gemacht werden müsste, bezeichnenderweise nicht gemacht. Als Bürger sind wir alle „systemrelevant“, weil Träger der politischen Ordnung, da gibt es keine Ausnahme. Als Mitarbeiter, die Aufgaben bewältigen, sind wir gar nicht als Person relevant, sondern in einer Funktion. Weil diese Unterscheidung in der Diskussion über Erwerbstätigkeit und Gemeinwesen zu wenig gemacht wird, geht manches durcheinander.

Sascha Liebermann