Das Kind beim Namen nennen statt Verrenkungen mancher Sanktionsgegner

Das Bundesverfassungsgericht hat gestern sein Urteil zur Frage verkündet, ob Sanktionen im Sozialgesetzbuch (Zweites Buch) verfassungsgemäß sind und sie teilweise für verfassungswidrig erklärt. Der Verlauf der öffentlichen Anhörung im Januar 2019 legte es nahe, dass Sanktionen nicht unangetastet bleiben werden. Sie gelten allerdings grundsätzlich weiterhin als verfassungskonform, das Prinzip der Nachrangigkeit sozialstaatlicher Leistungen ist möglich und wird davon nicht angetastet.

Schon länger werden die Sanktionsinstrumente kritisiert und vor allem in Zusammenhang mit der Agenda 2010 gebracht, die ein neues „Regime“ installiert habe, wie mit Erwerbslosen umzugehen sei. Manche Kritiker der Sanktionen fordern schon länger eine repressionsfreie Grundsicherung, lehnen Sanktionen vollständig ab. Wiederum andere stimmen in diesen Chor ein, sind aber gegen ein Bedingungsloses Grundeinkommen. Robert Habeck stellte vor etwa einem Jahr klar, welche Verpflichtung aufgehoben werden müsste, damit es eine „Garantiesicherung“ geben könnte: die Erwerbsverpflichtung. Just sie ist es aber, die von manchen Kritikern gar nicht oder nur in Grenzen angetastet wird.

Christoph Butterwegge zum Beispiel schrieb in der Frankfurter Rundschau, bevor das Urteil des Bundesverfassungsgerichts veröffentlicht war, wieder davon, dass es einer „politische[n] Totalrevision“ von Hartz IV bedürfe. Dabei ist es gerade Butterwegge, der mit der Erwerbsverpflichtung nicht brechen will, wie in einem Gespräch mit Anny Hartmann vor einigen Jahren deutlich wurde (siehe hier). Denn, wer Erwerbsfähige in der Pflicht sieht, ihr Auskommen selbst erzielen zu sollen, hält am Erwerbsgebot fest. Damit dieses durchgesetzt werden kann, bedarf es entsprechender Instrumente, mit denen bei Nicht-Erfüllung der Pflichtverletzung entgegengetreten werden kann. Klarer ist da schon Helga Spindler, die Sanktionen grundsätzlich für notwendig hält, aber nicht in der praktizierten Form. In der Freitag plädierte Roland Rosenow gestern ebenso für eine Abschaffung von Sanktionen, denn „Arme seien keine Feinde“, die Gesellschaft müsse sie als „Partner“ sehen und behandeln. Statt Sanktionen brauche es Anerkennung, die Würde müsse im Mittelpunkt stehen. Aber wie soll das möglich sein, ohne das Erwerbsgebot aufzugeben? Auch Norbert Häring ist gegen bestehende Sanktionen und verweist auf das Grundgesetz, das keine Erwerbsbereitschaft zur Voraussetzung mache für die Gewährung des Existenzminimums. Nun ist aber genau diese bedingungslose, oder anders ausgedrückt: vorbehaltlose, Gewährung gerade nicht gängige Praxis. Der bestehende Sozialstaat macht die Erwerbsbereitschaft zur Voraussetzung des Leistungsbezugs und setzt Sanktionen gerade dazu ein, bei Zuwiderhandlung den Pflichtcharakter in Geltung zu setzen, sofern die betreffende Person erwerbsfähig ist. Erwerbsunfähigkeit muss nachgewiesen werden, das hat seinen Grund in der Erwerbspflicht. Wenn Häring also von Sanktionen wegkommen will, müsste er die Erwerbsverpflichtung aufheben, damit die Bedingungslosigkeit betonen – dafür bietet er selbst Ansatzpunkte. Damit ist ja keineswegs die Verantwortung aufgehoben, dass der Einzelne sich fragen muss, wie er zum Wohl des Ganzen beitragen kann. Ein BGE befördert gerade keine individualistische Gesellschaft, wie dann geunkt wird, sondern macht überhaupt erst einmal deutlich, dass es verschiedene Leistungsformen gibt, von denen das Gemeinwesen gleichermaßen abhängig ist: Haushaltstätigkeiten, bürgerschaftliches Engagement und Erwerbstätigkeit. Erstere beiden muss man sich heute leisten können, sie werden also als nachrangig betrachtet, darin besteht die Verkehrung der Verhältnisse.

Wer also mit der Forderung nach Abschaffung von Sanktionen ernst machen und deswegen Sanktionen abschaffen will, kommt nicht umhin, zumindest in die Richtung des Vorschlags von Robert Habeck zu argumentieren. Wer darüber hinaus gehen will, kommt um ein BGE nicht herum. Gerade ein BGE wäre der entscheidende Stützpfeiler, um wirklich die Ausrichtung des Sozialstaats zu verändern.

Sascha Liebermann

Nachtrag 6.11.: Gestern veröffentlichte Zeit Online einen Beitrag von Butterwegge, in dem er für „Anreize“ statt Sanktionen plädiert. Diejenigen, die erwerbsfähig sind, aber partout nicht wollen, würde Butterwegge sie dann in Ruhe lassen? Das wäre die Konsequenz, wenn er auf Sanktionen vollständig verzichten will.