„Sozialstaat gegen Arme“…

…ein Beitrag von Jörg Lang in Kontext: Wochenzeitung. Eine sehr eindrückliche Schilderung unseres Sozialstaats und dem Bestreben, Einzelfallgerechtigkeit zu erreichen, darüber aber zu vergessen, zu welche komplizierten und langwierigen Verfahren das führt – das Nachsehen haben diejenigen, die der Leistungen bedürfen (siehe auch hier). Da nützt es wenig, dass es sich um Rechtsansprüche (siehe auch hier) handelt, müssen diese ersteinmal eingelöst werden. Hier ein Auszug aus dem Beitrag:

„Bei Gründung der Bundesrepublik gab es neben dem klassischen und noch aus der Bismarck-Zeit stammenden System der Sozialversicherung (Rentenversicherung, Krankenversicherung, Unfallversicherung, Arbeitslosenversicherung) nur eine allgemeine Sozialleistung bei besondere Bedürftigkeit: die der „Fürsorge“. Daraus entwickelte sich dann der Anspruch auf Sozialhilfe. Heute gibt es dagegen Dutzende von verschiedenen Ansprüchen auf viele einzelne Sozialleistungen. Dies dient angeblich dazu, die speziellen Hilfsbedarfe von Betroffenen besonders abzudecken. Im Ergebnis und in Wahrheit aber ist dadurch das gesamte System komplizierter und undurchsichtiger geworden. Außerdem konkurrieren verschiedene Leistungen miteinander oder werden aufeinander angerechnet, so dass selbst Fachleute und oft auch die Behörden selbst nicht mehr durchblicken. Von den betroffenen Menschen ganz zu schweigen.

Auch die einzelnen Verfahren bei den verschiedensten Ämtern sind immer komplizierter geworden. Dazu kommen regelmäßig aufwändige Überprüfungsverfahren. Die Folge ist, dass es für die „Hilfeberechtigten“ – von sozial schwachen oder behinderten Menschen bzw. Menschen mit eingeschränkten Lese- und Schreibkenntnissen einmal ganz abgesehen – immer schwieriger, wenn nicht unmöglich geworden ist, die entsprechenden Anträge mit den Anlagen und geforderten Nachweisen selbständig, vollständig und wahrheitsgemäß auszufüllen. Dabei droht ihnen darüber hinaus, dass sie bei „Fehlern“ auch mit gravierenden Rückforderungen und sogar Betrugsvorwürfen überzogen werden.“

Ein BGE könnte nicht alles abdecken, was in den von Lang geschilderten Fällen nötig wäre, aber einen erheblichen Teil. Gravierender ist, was ein BGE mit der Legitimationsstruktur des Sozialstaats machen würde: sie erhielte ein anderes Fundamt, weil nun der Einzelne in seiner Autonomie im Zentrum stünde und nicht mehr die Orientierung an der Erwerbsfähigkeit. Damit erzeugt die Bedarfsprüfung nicht den Anpassungsdruck, den sie heute hervorbringt und gegen den gerade diejenigen sich nicht gut wehren können, die der Hilfe besonders bedürften.

Sascha Liebermann