„Das kalte Herz des Hartz IV-Gesetzes“ oder die Verklärung des alten Sozialstaats

So könnte Heribert Prantls Beitrag in der Süddeutschen Zeitung überschrieben werden, der sich mit der bevorstehenden Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts über Sanktionen im Sozialgesetzgebuch, die das Existenzminimum beschneiden, befasst. Prantl schreibt dazu:

„Darf der Staat das Existenzminimum minimieren? Die schwarze Pädagogik, die in der Kindererziehung verpönt ist, hat Hartz IV bei erwachsenen Menschen wieder eingeführt. Bei Verletzung der „Mitwirkungspflicht“ droht jedenfalls die „Absenkung der Grundsicherung“, wie das im Behördenjargon heißt.“

So treffend auf den Punkt gebracht wird, was gesetzlich festgeschrieben ist, so ungenau ist Prantl hier. Was genau soll durch Hartz IV eingeführt worden sein? Das Bundessozialhilfegesetz sah mit § 25 genau solche Sanktionen ebenso schon vor (siehe auch hier):

„(1) Wer sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten oder zumutbaren Maßnahmen nach den §§ 19 und 20 nachzukommen, hat keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Hilfe ist in einer ersten Stufe um mindestens 25 vom Hundert des maßgebenden Regelsatzes zu kürzen. Der Hilfeempfänger ist vorher entsprechend zu belehren.“

Dieser Paragraf konkretisiert dabei nur, was in § 1 BSHG niedergelegt war:

„(2) Aufgabe der Sozialhilfe ist es, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Hilfe soll ihn soweit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben; hierbei muss er nach seinen Kräften mitwirken.“

An Hartz IV kann allenfalls überraschen, das die Lage verschärft wurde, nicht die schwarze Pädagogik, von der Prantl spricht. Prantls Beitrag erstaunt noch an anderer Stelle:

„Ein Gnadengeld ist Hartz IV nicht: Die Arbeitnehmer haben in eine Versicherung einbezahlt im Vertrauen auf Anwartschaften, um die sie am Ende gebracht worden sind. In Frankreich würden sie gelbe Westen anziehen deswegen.“

Hier hat er wohl die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe vor Augen, doch die Arbeitslosenhilfe war eine steuerfinanzierte Leistung, wurde gleichwohl aber als Versicherungsleistung definiert, zu deren Beantragung eine Bedürftigkeitsprüfung gehörte. Sie war also ein Mischgebilde, das machte sie angreifbar – und je nach Perspektive ungerecht. Für die Grundsicherung, vulgo Hartz IV, gilt das aber nicht mehr, sie ist keine Versicherungsleistung. Und auch folgende Ausführung lässt sich nur verstehen, wenn die durch Hartz IV vorgenommene Verschärfung, nicht aber die Einführung der Sanktionierbarkeit betont werden soll:

„Hartz IV macht den Bürger, wenn er arm ist, zum Untertan. Das darf nicht sein. Das Bundesverfassungsgericht muss diesen unguten staatlichen Paternalismus beenden.“

Ist es Hartz IV, das den Bürger zum Untertan macht? Bei aller Polemik, verkehrt das nicht die Verhältnisse? Es ist der erwerbszentrierte Sozialstaat, der den Bürger nicht ernst nimmt; es sind die Bürger als Träger der politischen Ordnung, die ihr eigenes Fundament nicht ernst nehmen: Mündigkeit als Voraussetzung von Demokratie.

In einem erwerbszentrierten Sozialstaat sind Sanktionen konsequent und ganz im Einklang mit dessen Ziel: der Rückführung in Erwerbstätigkeit. Die Frage ist, ob in einem solchen Sozialstaat überhaupt auf Sanktionen verzichtet werden kann, ohne das Erwerbsgebot aufzuheben? Prantl setzt voraus, dass dies möglich sei. Dann jedoch würde eine Einkommensgarantie eingeführt, die unverfügbar wäre, die Arbeitsagenturen wie die Jobcenter hätten gegen Leistungsbezieher keine Handhabe mehr. Mit diesem Schritt wäre der erste zu einem Bedingungslosen Grundeinkommen getan, lediglich die Bedürftigkeitsprüfung müsste noch abgeschafft werden – zumindest für diese Form der Einkommensgarantie. Wäre es da nicht klüger, gleich ein BGE zu fordern? Das sieht Prantl nicht, wie sein Kommentar überhaupt ob der Schlussfolgerungen daraus blaß bleibt.

Doch ganz gleich wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet, selbst wenn die Sanktionen für verfassungskonform erklärt würden, es wäre nur ein juristisches Urteil (siehe hier). Politisch ist damit die Frage nicht vom Tisch, welcher Sozialstaat am besten zur Demokratie passt, die auf mündige Bürger setzt, eine Frage, die in Prantls Ausführungen zu erkennen ist, aus denen er aber keinen klaren Schluß zieht – wie früher auch schon nicht. Ein BGE wäre ein solcher.

Sascha Liebermann