…so ließe sich ein Beitrag von Henrike Roßbach in der Süddeutschen Zeitung verstehen, die – wie manch andere – offenbar erleichtert ist, dass Sanktionen doch noch verfassungsgemäß sind. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil allerdings von einer Kann- und nicht von einer Soll-Bestimmung gesprochen. Der Gesetzgeber „kann“ solche Instrumente einsetzen, muss aber nicht. Manche Passage in der Urteilsbegründung ließe sich auch gegen diese „Kann“-Bestimmung auslegen:
„Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst ist (BVerfGE 49, 286 <298>). Das schließt Mitwirkungspflichten aus, die auf eine staatliche Bevormundung oder Versuche der „Besserung“ gerichtet sind (vgl. BVerfGE 128, 282 <308>; zur histori- schen Entwicklung oben Rn. 5, 7).“ (Urteil, Randnummer 127)
Zur Bedeutung des Mündigkeitsprinzips siehe unsere früheren Beiträge hier.
An einer Stelle im Beitrag von Frau Roßbach, die mit „Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine Bankrotterklärung“ überschrieben ist, heißt es:
„Denn in unserer Gesellschaft hat Arbeit einen hohen Stellenwert. Arbeit bedeutet, es für sich und seine Familie selbst zu schaffen, Neues lernen zu können, Menschen um sich haben. Wer Arbeit hat, der hat etwas, über das er sich am Abendbrottisch herrlich empören und genauso herrliche Heldengeschichten erzählen kann. Manche mögen es grundfalsch finden, der schnöden Arbeit derart viel Raum zu überlassen in einer Gesellschaft. Die meisten Menschen aber sehen das anders. Die vornehmste Rolle der Politik ist deshalb nicht die des barmherzigen Versorgers, sondern die des entschlossenen Möglichmachers. Der enorme Rückgang der Arbeitslosigkeit in den vergangenen Jahren zeigt, dass dies mit den Hartz-Reformen – wenn auch nicht alleine mit ihnen – durchaus in Teilen gelungen ist.“
Zu Beginn des Abschnitts werden zwei Aspekte miteinander vermischt, etwas zu schaffen im Sinne eines Gelingens auf der einen, finanzielle Unabhängigkeit auf der anderen Seite. Roßbach reduziert das Gelingen auf Einkommenserzielung. Gelingen im Beruf ist eine Frage danach, ob Aufgaben sachgemäß bewältigt werden – ganz gleich, worum es geht. Gelingen kann es aber genauso außerhalb von Erwerbstätigkeit geben – auch Neues zu lernen ist nicht von ihr abhängig, das ist überall möglich, allerdings unter heutigen Bedingungen ziemlich eingeschränkt. Man muss es sich leisten können, sich nicht um Einkommen kümmern zu müssen. Es ist nicht die Frage, ob „manche“ es „grundfalsch“ finden, Erwerbstätigkeit solche Bedeutung zu verleihen, die Überbewertung geht am realen Leben vorbei. Sie nimmt in Kauf, unbezahlte Arbeit in ihrer heutigen Degradierung einfach hinzunehmen und die von Erwerbsabhängigkeit unabhängige Stellung der Bürger als Bürger den Erwerbstätigen unterzuordnen. Die Gegenüberstellung von „Versorger“ und „Möglichmacher“ – die gar keinen Gegensatz bilden, es sei denn für marktliberales Denken – zeigt lediglich, dass Roßbach alles der Erzielung von Einkommen durch Erwerbstätigkeit nachordnet. Mit Autonomie hat das wenig zu tun, mit einer Vorstellung von Autarkie schon, so als versorgten wir uns selbst, wo wir doch stets in umfassender Abhängigkeit von anderen leben, sowohl im politischen Sinne als auch im Sinne der Leistungsentstehung und des -verbrauchs.
Siehe einen früheren Kommentar dazu hier.
Sascha Liebermann