…der im Jahr 2013 entstand, als die Initianten der „Eidgenössischen Volksinitiative Für ein bedingungsloses Grundeinkommen“ noch dabei waren, Unterschriften zu sammeln und es keineswegs klar war, ob es zu einer Volksabstimmung kommen wird. Hier wird die leicht überarbeitete Fassung aus dem Jahr 2016 veröffentlicht, da sie im Internet nicht mehr frei zugänglich ist.
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„Wo kämen wir dahin?“ oder „Sicher nöd“ – in der Schweiz können Reaktionen auf die Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens durchaus ähnlich entschieden sein wie in Deutschland. In dieser Hinsicht also sind die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ländern groß. In anderer indes sind sie klein. Wer in unserem Land angesichts eines solchen Vorschlags skeptisch ob seiner Folgen wäre, würde wohl eher nicht dazu beitragen, dass es dennoch – so es sie denn gäbe – zu einer Volksabstimmung über ihn käme. In der Schweiz hingegen habe ich es selbst erlebt, dass beim Sammeln von Unterschriften für die Eidgenössische Volksinitiative „Für ein bedingungsloses Grundeinkommen“, über die in diesem Sommer abgestimmt werden soll, auch jemand, der skeptisch – nicht ablehnend – ist, es dennoch dem Volk überlassen will, wie es dazu steht – und die Volksinitiative unterstützt. Das ist für die Schweizer so selbstverständlich, darüber ist keine Verständigung nötig. Sicher, wer skeptisch ist, vertraut darauf, dass andere es womöglich ebenso sehen. Durch die Unterstützung der Volksinitiative setzt sich jeder, der das zustande kommen unterstützt, jedoch der Möglichkeit aus, dass sie in der Abstimmung eine Mehrheit erhält. Er lässt sich also darauf ein, dass andere es anders sehen mögen und bringt damit zum Ausdruck, die Folgen dennoch tragen zu wollen. Schon das Sammeln von Unterschriften, das Werben für eine Alternative bei den Bürgern – gesammelt wird auf der Straße – setzt eine Offenheit voraus, allen als Bürgern und damit möglichen Unterstützern zu begegnen. Darin bekunden sich unmittelbar Vertrauen in die Mündigkeit der Bürger und Solidarität Demokratie wird so auf einfache Weise erfahrbar und lebendig.
– Wir tun uns hingegen schwer, diese Mündigkeit vorbehaltlos anzuerkennen. Man schaue sich nur die Einwände gegen Volksabstimmungen in Deutschland an. Experten werden von Bürgern für praktisch klüger gehalten als sie selbst.
Durch das Initiativrecht, Volksinitiativen lancieren zu dürfen, können die Bürger Fragen und Themen auf die öffentliche Agenda setzen und darüber befinden. Alleine schon die Möglichkeit einer Volksabstimmung oder des Ergreifens eines Referendums wirkt auf die Praxis von gewählten Delegierten in politischen Ämtern und Gremien zurück: Das Volk kann Entscheidungen herbeiführen oder revidieren – zu jeder Zeit. In Deutschland geht das in dieser Form nicht, nur auf Landes- und Kommunalebene gibt es direktdemokratische Elemente, allerdings in bescheidener Form. Im Unterschied zu diesen verbindlichen Verfahren wird das in Deutschland geltende Petitionsrecht auf Bundesebene in seiner Unverbindlichkeit – es stellt eine Bitte an den Deutschen Bundestag dar – womöglich nur durch die Europäische Bürgerinitiative übertroffen. Wer also bei uns etwas erreichen will, muss Umwege gehen. Manche unken deswegen, wir seien gar keine Demokratie, die Eliten machten, was sie wollten, wir könnten ohnehin nichts dagegen unternehmen. Im Zweifelsfall rufen wir lieber das Bundesverfassungsgericht an, statt durch öffentliche Meinungsbildung Mehrheiten zu suchen. Dabei bestätigen alle Bürgerinitiativen, die etwas bewegen wollten, das Vieles möglich ist. Wo sich Mehrheiten für ein Anliegen finden, lässt sich auch ohne direktdemokratische Verfahren etwas bewegen: durch beharrliche öffentliche Meinungsbildung unter anderem durch Demonstrationen. Es ist also nicht so, wie wir allzu gerne selbst uns einreden, dass wir direktdemokratische Verfahren bräuchten, um uns einmischen zu können. Sie würden jedoch Initiativ- und Einspruchsverfahren institutionalisieren; Demokratie würde anders erfahren und gelebt.
Es wäre vermessen, die direkte Demokratie zu überschätzen, unterschätzt werden sollte sie allerdings ebensowenig. Dass sie ein „scharfes Schwert“ ist, wie Manfred G. Schmidt es einmal ausdrückte, zeigt sich an den Volksinitiativen zum Minarettverbot und zur Masseneinwanderung. Sie wurden in Deutschland mit Unverständnis aufgenommen und herablassend kommentiert. An ihnen könne man ja sehen, wohin Volksabstimmungen führen, es sei doch gut, dass wir keine hätten. Gewiss, beide Volksinitiativen spielten auf der Klaviatur der Vorurteile. Dass sie angenommen wurden, führte auch in der Schweiz durchaus zu entsetzten Reaktionen und überraschte viele. Wer dies als Beleg dafür nimmt auf die Gefahren hinzuweisen, die von der direkten Demokratie ausgehen, entmündigt die Bürger als Souverän. Darüber hinaus gibt sich in dem Urteil eine Haltung zu erkennen, direkte Demokratie nur haben zu wollen, wenn der Ausgang einer Abstimmung dem eigenen Empfinden genehm ist oder zumindest erwünschte Resultate hervorbringt. Genau das würde dem Geist der Demokratie zuwiderlaufen. Gerade Abstimmungen mit unangenehmem Ausgang machen darauf aufmerksam, dass offenbar existierende Sorgen und Bekümmernisse der Bürger nicht ernst genommen wurden. Genau darüber wurde in der Schweiz im Gefolge diskutiert. Die Annahme einer Volksinitiative kann insofern als Auftrag gelesen werden, sich mit Ängsten, Vorbehalten, begründeten Einwänden – aus welchen Gründen sie auch immer bestehen mögen – auseinanderzusetzen, sie nicht zu übergehen. Sie sind wirklich, haben sich in der Abstimmung Ausdruck verschafft – ganz im Unterschied zu den unverbindlichen Meinungsumfragen, auf die sich in deutschen Diskussionen all zu oft bezogen wird. Sie sind unverbindlich und bedeuten im Grunde gar nichts, weil eine Abstimmung damit einhergeht für eine Entscheidung Verantwortung zu übernehmen, eine Meinungsumfrage ist keine Entscheidung, es gibt also auch nichts zu verantworten – sie sind eben unverbindlich.
Was hat dies alles nun mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen zu tun?
Nicht selten wird die Idee mit dem vermeintlichen „Ende der Arbeit“, also dem über einen langen Zeitraum betrachtet sinkenden Arbeitsvolumen in Deutschland, anhaltend hoher Arbeitslosigkeit und der Vermeidung von Armut in Verbindung gebracht. Gerade jüngst wurde diese Diskussion durch etwaige Folgen der Digitalisierung wieder angefacht, in der sich namhafte internationale Investoren wie Albert Wenger sowie Vorstände von Großunternehmen wie Timotheus Höttges und Bernd Leukert für eine langfristige Einführung ausgesprochen haben. Das BGE bleibt in diesen Überlegungen meist eine Reparaturmaßnahme. Es soll die dramatischen Folgen der Automatisierung auffangen und Kaufkraft sichern. Kaum hingegen wird die Geistesverwandtschaft von Demokratie und Bedingungslosem Grundeinkommen herausgehoben, die viel naheliegender ist als alle anderen Begründungen für es. Worin besteht sie?
In einem Nationalstaat, um einmal die gegenwärtig weitreichendste Gestalt der Demokratie heranzuziehen, gibt es nur zwei soziale Positionen, in denen Menschen um ihrer selbst willen involviert sind: in Familie (Verwandtschaftssystem) und Gemeinwesen. In beiden gilt ihre Angehörigkeit bedingungslos, weder werden Leistungen dafür vorausgesetzt, noch werden bei Nicht-Erbringung von Leistungen Angehörige aus diesen Positionen „entlassen“. Sie können gar nicht entlassen werden, weil sie nicht zur Erledigung spezifischer Zwecke eingestellt wurden. In einer republikanischen Demokratie werden Bürgerrechte den Staatsbürgern bedingungslos verliehen. Gemeinwesen sind auf die Loyalität ihrer Bürger, auf ihre Bereitschaft, sich einzubringen angewiesen und verfügen über keine Mittel, die sie zur „Herstellung“ von Loyalität einsetzen könnten, ohne sich selbst das Wasser abzugraben. Ohne die Bürger geht gar nichts, um es salopp auszudrücken. Sie sind es, die dafür Sorge tragen, parlamentarische Entscheidungen in ihre Lebensführung zu integrieren und so die politische Ordnung zu tragen. Was spektakulär oder pathetisch klingen mag, ist ein trivialer Zusammenhang, der ganz selbstverständlich, ohne viel Tamtam tagtäglich praktiziert wird. Genau darin liegt der Grund für die bedingungslose Verleihung der Bürgerrechte. Ernest Renan hat nicht von ungefähr die Existenz einer Nation als ein tägliches Plebiszit bezeichnet. Diese Abhängigkeit des Gemeinwesens von seinen Bürgern und ihrer Loyalität ist nicht aus dem Weg zu räumen, ohne die Grundfesten der Demokratie zu erschüttern. Loyalität zum Gemeinwesen wie Solidarität der Bürger sind Voraussetzungen des Bestehens, auf die ein Gemeinwesen vertrauen muss. Dass sie jeweils eine konkrete Gestalt haben, das unterscheidet sie voneinander, wie z.B. das Selbstverständnis als Gemeinwesen in der Schweiz und in Deutschland.
Was hätte nun ein Bedingungsloses Grundeinkommen zur Folge, der Sache nach, ganz gleich, wie die dadurch entstehenden Möglichkeiten genutzt würden? Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Verfasstheit der politischen Ordnung würde das BGE nur eine Konsequenz aus dem Bestehenden ziehen: die Vergemeinschaftung der Bürger, auf die heute schon vertraut werden muss, würde ins Zentrum der Systeme sozialer Sicherung rücken. Allerdings, und da erweist sich der kleine Schritt als großer, rüttelt genau dies am vorherrschenden Selbstverständnis als Gemeinwesen. Denn bisher gilt – auch in der Schweiz trotz direkter Demokratie –, dass der Legitimationszusammenhang zwischen Demokratie und Bürgerstatus nicht in der Gestaltung der Einkommensbildung zum Ausdruck kommt: Kein legitimes Einkommen ohne Erwerbstätigkeit, so ist es heute. Erwerbstätigkeit hat den Rang eines Gebots, das an erster Stelle steht, vor allem anderen Engagement, sei es in Familie oder Gemeinwesen. Für die Familie, in der Pflege von Angehörigen oder im Ehrenamt sich zu engagieren, das muss man sich leisten können, es setzt Einkommen voraus. Ohne Erwerbseinkommen gerät gar die Wahrnehmung der Bürgerrechte in Bedrängnis, da die „Rückkehr“ in den Arbeitsmarkt erklärtes Ziel der meisten Leistungen sozialer Sicherung ist. Helfer dabei ist der Sanktionsapparat nach dem Sozialgesetzbuch. Mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen von der Wiege bis zur Bahre, für jeden Staatsbürger und Personen mit Aufenthaltsbewilligung, als eigenständige Einkommensquelle, würde genau dasjenige gestärkt, was die Grundfesten der Demokratie ausmacht: die Souveränität der Bürger im Gemeinwesen. Es würde ausdrücklich anerkannt, dass Wohl und Wehe eines Gemeinwesens davon abhängt, die Bürger als Bürger in ihrer fundamentalen Bedeutung anzuerkennen. So würde durch ein Bedingungsloses Grundeinkommen der Pluralität des Interessenstreits, der für die Demokratie konstitutiv ist, eine Pluralität der Lebensentwürfe an die Seite treten können, deren Wertigkeit sich nicht mehr an Erwerbstätigkeit bestimmen würde. Was die Bürger daraus machten, wäre ihnen überlassen. Die Verantwortung hätten sie in jedem Fall zu tragen. Das Bedingungslose Grundeinkommen wäre also nicht mehr und nicht weniger als die Konsequenz aus dem Selbstverständnis als Demokratie, die unsere politische Ordnung auszeichnet.
Die Schweizer direkte Demokratie, wenngleich die Einwände dort gegen die Idee des BGE gleichermaßen stark sind, zeigt uns, was möglich ist, wenn die Stellung der Bürger ernst genommen wird statt unverbindliche Bürgerbeteiligung zu praktizieren.
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