…ein Interview – unter einem Titel, der im Text nicht auftaucht – mit der Sozialwissenschaftlerin Anke Hassel im enorm Magazin, das wieder einmal zeigt, wie sehr Werturteile die Auseinandersetzung – hier mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen – leiten können. Das beginnt schon in der zu Beginn angestellten Kostenrechnung:
„[Hassel] Bleibt unser Sozialsystem neben einem BGE erhalten, müsste sich das Budget verdoppeln. Die 1.161,5 Milliarden Euro umfassen aber schon 32,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Also müsste extrem viel Geld umverteilt werden, heißt: hohe Steuern auf Einkommen, Vermögen, Immobilien, Wertpapiere und so weiter. Menschen mit mittleren bis hohen Gehältern würden das BGE für alle finanzieren und hätten selbst kaum oder nichts davon.“
Sie antwortet hier auf die Frage nach der Finanzierung, nachdem die Interviewerin darauf hingewiesen hatte, dass es BGE-Konzepte gebe, die eine Beibehaltung der Sozialversicherungen vorsehen. Zurecht merkt Hassel an, wozu das führen würde für die Finanzierung und übergeht doch zugleich eine Korrektur, die sie hätte anbringen können. Die vollständige Beibehaltung bedarfsgeprüfter Leistungen wäre nicht einmal begründbar, wenn doch mit einem BGE eine dauerhaft bereitgestellte Absicherung (als Sockel) eingeführt werden würde. Je nach Kaufkraft, die das BGE hätte, wäre der Regelsatz in der Grundsicherung und manches darüber hinaus in der heutigen Form gar nicht notwendig. Welche Leistungen das beträfe, könnte ein Blick in die Sozialgesetzbücher zutage fördern. Bedenkt man noch, dass ein BGE als Individualleistung, so ist es ja gedacht, in Haushalten die Einkommenssituation erheblich verbesserte, stellte sich die Frage, ob je nach Haushaltsgröße Leistungen, die heute nötig sind, nicht mehr beantragt werden müssten (z. B. Wohngeld). Differenzierungen dieser Art sind wichtig in der Diskussion und werden hier unterlassen.
Weshalb erwähnt Hassel den Grundfreibetrag in der Einkommensteuer nicht, denn dieser Betrag würde in das BGE eingehen und nicht zusätzlich bereitgestellt? Er ist ja heute schon gesichert für diejenigen, die Erwerbseinkommen erzielen, und zwar als Besteuerungsvorbehalt. Wer ein BGE einführen will, muss also nur Verteilungswege und -modi verändern. Der Grundfreibetrag wird ausgezahlt und als Freibetrag abgeschafft, das betrifft dann den größten Teil der Personen. Für die Finanzierung sind darüber hinaus nicht die Bruttokosten relevant, sondern die Nettoaufwendungen (siehe auch hier und hier). Dass Einnahmen mittels Steuern abgeschöpft werden müssen, um sie bereitzustellen, ist klar, doch weshalb sollte das einen höheren Umverteilungsaufwand darstellen als heute? Ob es gewollt ist von den Bürgern, das ist die entscheidende Frage.
Die Bemerkung am Ende, dass „Menschen mit mittleren bis höheren Gehältern“ davon nichts hätten, überrascht doch. Zum einen ist die normative Basis eines BGE eine andere als im Falle bestehender Leistungen, damit würde für alle die Anerkennung der Person um ihrer selbst willen durch und für das Gemeinwesen erfahrbar. Sie ist zwar schon im (Staats-)Bürgerstatus enthalten, findet aber in der Einkommenssicherung keinen vorbehaltlosen Ausdruck. Zum anderen entfaltet das auf Bedürftigkeitsprüfung und Erwerbszentrierung basierende Sozialsystem auch auf diejenigen eine normative Wirkung, die nicht unmittelbar Leistungen beziehen, das gilt z. B. für „unbezahlte Arbeit“. Mit einem BGE wehte im Gemeinwesen ein anderer Wind als heute.
Die Interviewerin fragt nach:
„Vertreter:innen neoliberaler BGE-Modelle wollen soziale Leistungen deswegen an anderer Stelle abbauen.
[Hassel] Ja, und das würde die bestehenden Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft zementieren. Menschen, die arm sind, bleiben arm und Menschen, die von Armut bedroht sind, könnten abrutschen.
Alleinstehende Sozialhilfeempfänger:innen bekommen aktuell 449 Euro, plus Wohngeld, Heizkosten et cetera – insgesamt ungefähr so viel wie ein Grundeinkommen. Sie würden mit einem BGE also genauso dastehen wie bisher. Menschen, die nicht zu den ärmsten gehören, aber dennoch auf Sozialleistungen und Sicherungssysteme angewiesen sind, würden schlechter dastehen. Denn sie müssten sich plötzlich selbst vor sozialen Risiken schützen…“
Mit dem Adjektiv „neoliberal“ lassen sich schnell Überlegungen in die Ecke stellen, um sie abzutun. Dass es jedoch nicht sinnvoll ist, Leistungen beizubehalten, die ein BGE ebenfalls erbringen kann, hat mit „Abbau“ nichts zu tun, mit Substituierung viel. Wer allerdings das Attribut „neoliberal“ zum Abkanzeln eines Vorschlags nutzen will, ist für eine Diskussion offenbar nicht offen. Ob Menschen „arm bleiben“, hängt doch an der Höhe des BGE, nicht am BGE als solchem. Die Betragshöhe von Leistungen aber ist nur eine Seite, die andere, wie die Leistungen bereitgestellt werden, das erwähnt Hassel mit keiner Silbe. Verdeckte Armut und Stigmatisierung sind Auswirkungen bedarfsgeprüfter Leistungen, nicht eines BGE. „Sozialhilfeempfänger“ stünden eben nicht „genauso“ da wie bisher, wenn sie sich keiner Bedürftigkeitsprüfung mehr unterziehen müssten für den Sockelbetrag und die Bedarfsprüfungen für Leistungen oberhalb des Sockelbetrags auf einem gänzlich anderen normativen Fundament stünden. Überraschend ist, dass sie das als Sozialwissenschaftlerin nicht sieht, als ob sie nicht um die Wirkung von Normen wisse, um die geht es hier aber.
Die nächste Sorge oder Befürchtung, die immer wieder als Einwand gegen ein BGE zu hören ist, ist eine, die immer gilt, auch heute:
„Würde man das alles durch eine allgemeine Steuer ersetzen, wie es in vielen BGE-Modellen vorgesehen ist, kann der Staat damit finanzieren, was er möchte. Was, wenn die nächste Bundesregierung eine andere politische Linie verfolgt und das BGE plötzlich kürzt? Oder nur noch private Krankenversicherungen möchte?
Wenn nun Steuermittel für ein BGE ausgegeben würden, befürchte ich, dass an anderen sozialen Dienstleistungen gespart würde, etwa in der Bildung. Dabei sind wir dort massiv unterausgestattet, genauso in der Gesundheitsvorsorge und psychologischen Betreuung. Natürlich hat unser Sozialstaat Fehler. Er ist bürokratisch, an bestimmten Stellen ungerecht. Aber ich würde ihn immer eher verbessern, als ihn abzuschaffen.“
Sicher ist es möglich, dass eine Bundesregierung – mit Zustimmung des Parlaments – Leistungen zu kürzen anstrebt, dann sind die Bürger per öffentlicher Willensbildung gefordert, sich dagegenzustemmen, wenn sie das nicht wollen. Wenn es sie nicht kümmert, wird es zur Kürzung kommen. Hat Frau Hassel hier vergessen, dass die Rentenformel ebenfalls zum Spielball politischer Entscheidungen werden kann und dass „Hartz IV“ nicht einfach so über die Bürger hereingebrochen ist?
Weiter heißt es:
„Das Argument, jeder Mensch bräuchte ein Grundeinkommen, weil es bald kaum noch Jobs geben wird, halte ich für völlig aus der Luft gegriffen. Natürlich sind bestimmte Berufsfelder automatisierbar und könnten um einige Prozentpunkte schrumpfen. Es gibt aber keine empirischen Belege dafür, dass massenhaft Arbeitsplätze einfach verschwinden werden. Berufe verändern sich, Menschen lassen sich umschulen. Und wenn Jobs wegfallen, entstehen neue durch die Digitalisierung, wie wir es im E-Commerce, in der Logistik und in den sozialen Medien beobachten konnten. Wir leben in einer schnell alternden Gesellschaft. Die Branchen der Zukunft, die wir jetzt ausbauen müssen, sind deshalb: Pflege, Gesundheit und Bildung.“
Hier spricht sie zurecht einen wunden Punkt der Debatte an, die Verknüpfung von BGE und etwaigen Folgen der Digitalisierung. Zwar wäre es durchaus so, dass ein BGE für den Fall, dass eine solche Entwicklung eintreffen sollte, eine gute Absicherung böte, doch ist die Frage der Einführung unabhängig von der Entwicklung des Arbeitsmarktes, selbst wenn es Fachkräftemangel gibt (siehe hier). Hassel verfällt dann in die ebenso ungewisse und nur beschworene Aussicht, es werde alles nicht so gravierend, in anderen Bereichen bestehe großer Bedarf. Wir wissen nicht, welche Automatisierungspotentiale schlummern, die aufgrund der Fixierung auf Erwerbstätigkeit nicht gehoben werden, wie wir nicht wissen, in welchen Bereichen tatsächlich entsprechende Arbeitsplätze gefragt sein werden – für Berufe muss man auch geeignet sein, Umschulungen reichen dafür nicht aus, es muss ein Interesse an und eine Neigung zu einem Beruf bestehen.
Abschließend sei noch diese Passage kommentiert:
„Es ist nachweislich besser, wenn ältere Menschen so lange wie möglich zu Hause wohnen bleiben und dort von Angehörigen oder einem Pflegedienst betreut werden. In einer Pflegeeinrichtung wären die Kosten höher und die Senioren unglücklicher. Was privat und von Pflegediensten geleistet wird, ist sehr wertvoll für Staat und Gesellschaft. Daher sollten wir uns fragen: Wie können wir pflegende Angehörige besser unterstützen? Vielleicht mit Geldern, die sonst an Pflegedienste gegangen wären. Allerdings sollten wir nicht in ein System kommen, wo Familienangehörige Arbeiten wie diese nur noch gegen Geld übernehmen.“
Rätselhaft ist es, wie Frau Hassel die Passage beschließt. Ja, es ist bekannt, dass häusliche Pflege viele Vorzüge hat, ohnehin werden fast drei Viertel der Pflegebedürftigen privat versorgt. Doch was hat das damit zu tun, dass ein BGE dazu führen könnte, Pflege nur noch gegen Bezahlung zu übernehmen? Ein BGE ist keine Bezahlung, aber eine Ermöglichungspauschale. Man könnte eben pflegen, wenn man das wollte, weil ein BGE schon zur Verfügung stünde, auch für den Pflegebedürftigen. Das würde manches erleichtern, ohne damit behaupten zu wollen, es bedürfe keiner weiteren Leistungen um Erkrankungen zu behandeln.
Das Interview ist in vielerlei Hinsicht wieder ein Scheingefecht.
Meine früheren Kommentare zu Ausführungen Anke Hassels finden Sie hier, hier und hier.
Sascha Liebermann