„Minimalisierung des Minimums“…

…unter diesem Titel nimmt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung Stellung zu einem Urteil des Sozialgerichts in Gotha, das die Kürzung bei Arbeitslosengeld II im Falle von Pflichtverstößen für verfassungswidrig erklärt hatte. Nun muss das Bundesverfassungsgericht prüfen, wie es sich mit dem Sanktionsregime verhält. Doch was kann eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bringen?

Selbst wenn die Verfassungswidrigkeit festgestellt würde, wer wäre zum Handeln aufgefordert, um die Missstände zu ändern? Das Parlament natürlich, denn nur es kann ein Gesetz ändern und ein neues verabschieden. Die Verfassung schwebt nicht über dem politischen Souverän, sie ist eine Richtschnur, kein ehernes Gesetz. Zum Glück ist das so, sonst wäre das Parlament überflüssig und tatsächlich nur eine „Schwatzbude“, zu der manche es schon erklärt haben. Ist das Bundesverfassungsgericht also, auch wenn dieser Weg in Deutschland gerne beschritten wird, der richtige Adressat, um eine solche Frage wie die der Sanktionen zu klären? Es geht dabei doch darum, was politische Souveränität ist, und die wird nicht durch ein Gericht hergestellt, sie wird lediglich durch Recht geschützt. Wenn aber diese Souveränität keinen Rückhalt im Selbstverständnis der Bürger hat – da helfen alle Verweise auf das Grundgesetz nichts -, was ist die Verfassung dann wert? Wenn eine Mehrheit das Sanktionsregime trägt, und sei es nur durch passive Duldung, dann sagt sein Fortbestehen etwas darüber aus, wie wir zueinander als Bürger stehen. Was würde eine Beseitigung des Sanktionsregmies (das es auch vor der Agenda 2010 gab) per Gerichtsentscheid erreichen, wenn der Geist davon weiterhin wirkte? Dasselbe gilt umgekehrt für den Fall, dass das BVerfG das Sanktionsregime für verfassungsgemäß erklärt. Was folgt daraus? Wäre dann alles gut, weil das BVerfG so entschieden und die Verfassungskonformität erklärt hätte? Udo di Fabio, ehemaliger Richter am BVerfG, hat sich zu dieser Überhöhung geäußert und sie mit dem nicht gerade starken Vertrauen in die politische Kompromißbildung erklärt (siehe hier).

Die entscheidende Veränderung ist nur politisch zu erreichen, durch öffentliche Auseinandersetzung, also öffentliche Willensbildung. Wem daran liegt, dass sich die Bürger als Bürger begreifen und begegnen, das Bürgerethos leben oder entwickeln, das für eine lebendige Demokratie notwendig ist, der muss auf eine politische Entscheidung hinwirken, nicht auf eine juristische. Eine Verfassung kann kein Bürgerethos hervorbringen, sie kann es allenfalls schützen oder in ihr kann es zum Ausdruck kommen. Wie wir miteinander umgehen und leben, ist eine Frage der Selbstbestimmung. Die Politikwissenschaftlerin Ingeborg Maus hat dieser Frage interessante Überlegungen gewidmet. 

Zu einem BGE, um diesen Bogen zu schlagen, wird es nur durch Willensbildung kommen, nur dann wird es den Rückhalt haben, den es braucht. Ganz gleich, was das BVerfG entscheidet.

Sascha Liebermann

„Sozialrechtliche Regelbedarfsleistungen derzeit noch verfassungsgemäß“…

….so das Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, siehe  Bundesverfassungsgericht Pressemitteilung und Entscheidung des BVerfG v. 23.Juli 2014.

Was lehrt einen dieses Urteil? Das Bundesverfassungsgericht ist nicht die Instanz, die darüber zu befinden hat, wie wir als Gemeinwesen zusammen leben wollen, wie dieses Zusammenleben zu gestalten wäre. Das Gericht befindet lediglich darüber, ob Gesetze mit der Verfassung übereinstimmen, beachtet also die juristische Seite der Auslegung (siehe hier). Dass die Stellung des BVerfG im politischen Gefüge problematisch ist, darauf hat die Politikwissenschaftlerin Ingeborg Maus hingewiesen:

„Das Bundesverfassungsgericht, das vom Grundgesetz als »Hüter« der geschriebenen Verfassung eingesetzt war, usurpiert in der freizügigen Auslegung einer »Verfassung«, deren Inhalt es selber durch seine Entscheidungen je nach Sachlage stets neu bestimmt, die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, ohne dass ein Verfassungsgesetz zustande käme. Auf diese Weise verschwinden auch die rechtsfreien Räume der Bürger, die nur durch präzise Gesetzesbestimmungen ausgegrenzt werden können, während die gesetzgebende Souveränität des Volkes in der Selbstprogrammierung der Apparate verschwindet.“ (Ingeborg Maus: Vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat 2004, zit. nach Wikipedia)

Aus gutem Grund ist dem Gericht keine Exekutive zugeordnet, die seine Entscheidungen unabhängig von der Kontrolle durch das Parlament durchsetzen kann. Wäre das möglich, würde der Souverän dadurch entmachtet.

Sascha Liebermann

„Volksentscheid – sonst klagen wir!“ – Verfassungsbeschwerde zu Eurorettungsschirm und Fiskalvertrag

Mehr Demokratie e.V. hat beim Bundesverfassungsgereicht eine einstweilige Anordnung und eine Klageschrift eingereicht, um einen bundesweiten Volksentscheid über den ESM- und Fiskalvertrag zu erreichen. Vollmachten können noch bis zum 5. August an Mehr Demokratie e.V. gesendet werden.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar ! Brandbrief eines entschiedenen Bürgers“

Ralph Boes, Mitglied der Bürgerintiative bedingungsloses Grundeinkommen e.V., hat sich dazu entschlossen, Hartz IV den Kampf anzusagen. In seinem Brandbrief heißt es:

„…Ab heute widerstehe ich offen jeder staatlichen Zumutung, ein mir unsinnig erscheinendes Arbeitsangebot anzunehmen oder unsinnige, vom Amt mir auferlegte Regeln zu befolgen. Auch die durch die Wirklichkeit längst als illusorisch erwiesene Fixierung auf „Erwerbsarbeit“ lehne ich in jeder Weise ab.
Ich beanspruche ein unbedingtes Recht auf ein freies, selbstbestimmtes Leben, welches ich einer von mir selbst gewählten, mir selbst sinnvoll erscheinenden und mir nicht von außen vorgeschriebenen Tätigkeit widmen darf – auch wenn ich durch die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse gezwungen bin, dafür Hartz IV in Anspruch zu nehmen.“

Brandbrief und Möglichkeit zum Mitzeichnen
Diskussion zum Brandbrief bei Facebook
Diskussion zum Sticker, um sich als ALG II-Bezieher kenntlich zu machen
Kommentare von Unterzeichnern

Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Ermittlung von Regelleistungen

In der Pressemitteilung (hier die Entscheidung in voller Länge) des Bundesverfassungsgerichts heißt es u.a.: „Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die Vorschriften des SGB II, die die Regelleistung für Erwachsene und Kinder betreffen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG erfüllen.“

Auf wenige der zahlreichen Kommentare sei hier hingewiesen:
Nachdenkseiten
Götz W. Werner
Heribert Prantl (Sueddeutsche Zeitung)
Jürgen Borchert (Richter am Hessischen Landessozialgericht)
Financial Times Deutschland
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Frankfurter Rundschau

Am Geist der sogenannten Hartz-Gesetze ändert diese Entscheidung nichts, worauf manche Kommentare deutlich hinweisen, während andere die Entscheidung als „Paukenschlag“ feiern. Weshalb, das bleibt ein Rätsel, denn wieder einmal musste das Bundesverfassungsgericht einen Missstand feststellen, der eigentlich politisch zu lösen ist. Eines Gerichtsurteils bedarf es dazu nicht. Wie schwer sich selbst Kritiker der gegenwärtigen Regelungen im Sozialgesetzbuch mit Alternativen tun, kann in der Phoenix-Runde vom 9. Februar exemplarisch erfahren werden.

Auch die deutliche Kritik von Wolfgang Lieb (Nachdenkseiten) am Urteil rückt nicht vom alten, den Lebensstandard sichernden Sozialstaat ab, der nur Ersatzleistungen gewährt und den Erwerbstätigen höher stellt als den Bürger. Die Nachdenkseiten haben sich wiederholt zum bedingungslosen Grundeinkommen ablehnend geäußert, ohne – diesen Eindruck erhält man als Leser – sich mit dem Vorschlag einmal differenziert zu beschäftigen (siehe dazu einen Kommentar und einen Leserbrief).

Sascha Liebermann

"Wer Geld von der Gemeinschaft bekommt, muss auch was dafür tun"

Alles beim Alten im Bundesarbeitsmininsterium. Mit Aussagen wie diesen „Wir werden es nicht akzeptieren, wenn jemand ohne nachvollziehbaren Grund nicht oder nur wenige Stunden arbeitet“ und „Gleichzeitig gilt: Wer Geld von der Gemeinschaft bekommt, muss auch was dafür tun“ wird Bundesarbeitsminsterin von der Leyen in der Bild-Zeitung zitiert. Damit greift sie die bekannte Argumentation auf, Transferempfänger seien Kostgänger des Staates. Am selben Tag, dem 10. Januar, war sie bei „Anne Will“ zu Gast, um über zehn Jahre Agenda 2010 zu räsonnieren. Auch dort war an ihren Äußerungen zu erkennen, dass der Druck auf diejenigen, die „Geld von der Gemeinschaft“ erhalten, nicht abnehmen, sondern zunehmen soll. Da folgt sie ganz ihrem Vorgänger Olaf Scholz und den Aussagen Guido Westerwelles und Angela Merkels im Bundestagswahlkampf (siehe „FDP im Kreis der Faulheitsbekämpfer angekommen“).

Zur gleichen Zeit wird deutliche Kritik an der Hartz-Gesetzgebung auch durch einen Beschluss des Landessozialgerichts Hessen (Beschluss zur Grundsicherung für Arbeitsuchende) und schon länger von Helga Spindler geübt (siehe jüngste „Phoenix-Runde“ [Podcast] mit Helga Spindler und Jürgen Borchert, Richter am Landessozialgericht Hessen). Doch, zielt sie etwa darauf, die Prinzipien des Transfersystems, das an Erwerbsleistung gebunden ist, aufzugeben? Was ist von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu erwarten, dass sich – anders als in manchen Medien berichtet – mit der Berechnung der Regelsätze für Kinder und Erwachsene beschäftigt?

Eine Erhöhung der Regelsätze, sollte sie kommen, würde natürlich denjenigen helfen, die von ihnen leben müssen. Das ist unbestritten. Aber schon in der Frage, wer etwas von der Erhöhung des Schonvermögens hat, sieht es diffiziler aus, denn sie trifft nur diejenigen, die auch etwas angespart haben bzw. es konnten. Eine Verbesserung verbleibt also innerhalb des Systems. Es wird gegenwärtig ja nicht einmal über eine Liberalisierung im Sinne einer Negativen Einkommensteuer nachgedacht, die ohne Bedürftigkeitsprüfung auskäme. Wie an den Äußerungen von Frau von der Leyen zu erkennen ist, steht auch die „Aktivierung“ nicht zur Disposition. Bei aller Diskussion über Hartz IV, das Vierte Gesetz über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, die durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weitere Nahrung erhalten könnte, ist damit politisch langfristig wenig erreicht. Wir müssen uns vor Augen führen, dass die möglichen Verbesserungen nicht aus dem Parlament heraus vorgeschlagen und verabschiedet werden, sondern vom Bundesverfassungsgericht, das über die Einhaltung des Grundgesetzesfür die Bundesrepublik Deutschland wacht. Statt die Gestaltung aktiv politisch in die Hand zu nehmen, statt in öffentlicher Auseinandersetzung für Vorschläge zur Verbesserung um die Zustimmung der Bürger zu werben, erfolgt eine Verbesserung der gegenwärtigen Lage allenfalls reaktiv. Es hat sich, wie daraus zu schließen ist, im politischen Bewusstsein wenig bis nichts verändert, auch wenn immer wieder Verbesserungsbedarf eingestanden wird. Nun, in diesem Fall gilt durchaus: Vielles wenn nicht alles Schall und Rauch.

Um so mehr gilt es auch in 2010, dem Vorschlag eines bedingungslosen Grundeinkommens weiter Gehör zu verschaffen. Gelegenheiten und Möglichkeiten gibt es reichlich, auch nach dem Wahlkampf des vergangenen Jahres.

Sascha Liebermann

Hartz IV: Verfassungsrichter bringen Regierung in Erklärungsnot

Als Niederlage der Bundesregierung kann die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts über die Methoden zur Ermittlung von Hartz IV-Regelsätzen gelten. Zahlreiche Zeitungen berichten darüber: die Süddeutsche, Spiegel Online, Frankfurter Rundschau.

Im Kommentar von Heribert Prantl in der SZ werden die Richter so wiedergegeben:

„Es geht um mehr, nämlich um das soziokulturelle Existenzminimum, also um den Betrag, den man benötigt, um am gesellschaftlichen Leben wenigstens ein wenig teilnehmen zu können. Eine moderne Sozialpolitik sorgt dafür, dass der Mensch Bürger sein kann; seine politischen Rechte brauchen ein soziales Fundament. Die Richter werden es beschreiben und befestigen.“

Doch, eines muss hier festgehalten werden: selbst ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts schafft noch keine Verbesserung. Sie ist nur politisch zu erreichen. Schon früher gab es Urteile des BVerG zum soziokulturellen Existenzminimum, die in der Hartz IV-Gesetzgebung nicht beachtet wurden.

Nur Engagement also wird zu Verbesserungen führen können, ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt uns niemand, wir – die Bürger – müssen es schaffen.