Geld vom Staat kommt bei Kindern an…

…dieser Befund aus einer Studie der Bertelsmann Stiftung scheint manche überrascht zu haben. Für Stefan Sell, der sich im Deutschlandfunk dazu äußerte, widerlegt sie anhaltende Vorurteile. Überraschen konnte diesen Befund nur, wer bislang vom Gegenteil überzeugt war, denn Untersuchungen mit nicht-standardisierten, sogenannten fallrekonstruktiven Verfahren fördern leicht zutage, dass dort, wo Eltern sich nicht zuerst um das Wohl ihrer Kinder sorgen, lebensgeschichtliche Sonderfälle vorliegen, Traumatisierungen, die Eltern also kaum in der Lage sind. Davor, diese Zusammenhänge nicht zu sehen, sind auch erfahrene Praktiker nicht gefeit, worauf die Studie zu Beginn gleich hinweist, siehe auch hier.

Methodisch basiert die Studie auf einem quasi-experimentellen Design und nutzt Daten aus dem Sozio-ökonomischen Panel, einer der großen Datensammlungen, die sehr oft für solche Untersuchungen herangezogen wird. Es handelt sich allerdings um standardisierte Daten, wie sie in der Regel durch Befragungen erhoben werden, die z. B. mit Antwortskalen oder vordefinierten Antworten arbeiten. Der Befragte kommt damit direkt gar nicht zur Geltung, nicht in seiner Sprache, nicht in der Konkretheit seiner Haltung zur Welt. Man kann auf diesem Wege also wenig bis gar nichts Konkretes über widersprüchliche Deutungen eines Befragten erfahren und schon gar nicht über die spezifische Dynamik in diesen Deutungen. Von daher gesehen sind standardisierte Verfahren gerade bezüglich des hier untersuchten Gegenstandes wenig aufschlussreich. Sie können Anhaltspunkte liefern, mehr nicht.

Seit Jahrzehnten gibt es eine differenzierte Methodendiskussion in den Sozialwissenschaften, hier besonders der Soziologie, über Grenzen standardisierter und Möglichkeiten nicht-standardisierter Verfahren (z.B. Fallrekonstruktion). Beide Verfahren haben ihre Stärken in unterschiedlichen Hinsichten, es ist aber keineswegs so, dass nicht-standardisierte Daten nur Einsichten über „Einzelfälle“ liefern, wie oft zu lesen ist. Mit ihrer Hilfe kommt man so nah an die Lebenswelt heran, wie es anders nicht möglich ist. Erstaunlich genug, dass sie in der Sozialpolitikforschung nicht in der Breite eingesetzt werden.

Sascha Liebermann

„Erklär’s mir, RWTH! Professor Ralph Rotte über das bedingungslose Grundeinkommen“

Ein Überblick über die Debatte, das Für und Wider sowie verschiedene Positionen. Allerdings wird manch wichtiger Aspekt überraschenderweise ausgelassen bzw. etwas missverständlich dargestellt. So ist das Projekt in Finnland nicht „aufgegeben“ worden, es läuft lediglich aus und wird nicht verlängert. Vielleicht meinte Herr Rotte das, angesichts der verkürzten Medienberichterstattung wäre hier Klarheit wichtig.

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„Hören wir auf, der Arbeit hinterher zu rennen“ – wie machen wir das, Herr Vontobel?

Damit beschäftigt sich Werner Vontobel in einem Beitrag auf Makroskop. Es geht um bezahlte (indirekte) und unbezahlte (direkte) Arbeit, um Hartz IV, Teilhabe und das Bedingungslose Grundeinkommen. Letzteres gewinnt vor dem Hintergrund an Bedeutung, dass indirekte Arbeit, also Erwerbstätigkeit, heute einen viel zu hohen Stellenwert genieße. Wie nimmt Vontobel das BGE auf?

„Doch die Idee, das Einkommen völlig von der Arbeit zu trennen, ist auch gefährlich. Die Gefahr besteht darin, dass eben auch die Empfänger des Grundeinkommens nicht nur von der Arbeit sondern auch von der Gesellschaft abgekoppelt werden. Damit aber wäre das Problem der Arbeitslosigkeit noch nicht einmal zur Hälfte gelöst, denn mehr noch als unter dem Verdienstausfall leiden die Arbeitslosen unter dem sozialen Ausschluss. Dieser Teil des Problems löst sich allerdings nicht so einfach, wie es sich viele „Schröder- Sozialdemokraten“ mit ihrem einfältigen Sozial-ist-was-Arbeit-schafft-Slogan vorstellen. Im Gegenteil: Schlecht bezahlte, unregelmäßige Arbeit mit langen Arbeitswegen kann die Menschen erst recht in die Isolation treiben und die letzten familiären und nachbarschaftlichen Verbindungen kappen.“ [Hervorhebungen von mir, SL]

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„Ist es sinnvoll, junge Arbeitslose in Beschäftigung zu zwingen?“ – Anke Hassel reagiert auf Zuschriften

Offenbar erhielt Anke Hassel auf ihren Beitrag in der Süddeutschen Zeitung „Süßes Gift“ (siehe meinen Kommentar) viele Zuschriften. Auf Facebook reagierte sie noch einmal mit einer zusammenfassenden Stellungnahme.

Der Platz in einer Zeitung erlaube es nur, Argumente zu umreißen und darüber hinaus gebe es keine Erkenntnisse darüber, wie ein BGE wirken würde. Kritik richte sich gegen ihre Ausführungen dazu, wie es auf Jugendliche und ihre Bildungsambitionen wirken könne. Sie fasst zusammen:

„Die Annahme ist die folgende: Wenn ein 18jähriger Schulprobleme hat (weil die Schule schlecht ist oder er schlecht deutsch spricht z.B.) und dann die Wahl hat sich entweder weiter durch die Schule zu quälen, eine Ausbildung zu machen und dann eventuell als Polizist zu arbeiten oder zu wissen, dass er auch ohne Anstrengung ein Auskommen hat, dann befürchte ich, dass mehr junge Menschen mit Schwierigkeiten den zweiteren Weg gehen. Ist das überheblich oder paternalistisch? So sehr wie die Schulpflicht paternalistisch ist, weil Jugendliche nicht selbst darüber entscheiden sollen, ob sie zur Schule gehen.“

Ist das nun eine rhetorische Frage? Offenbar nicht. Da Frau Hassel eine allgemeine Aussage trifft, ist sie von großer Bedeutung. Sie beruft sich selbst darauf, dass sie ein bestimmtes Handeln „befürchte“. In der Tat ist es paternalistisch, dann mit einer allgemeinen Lösung zu antworten, die nicht auf Selbstbestimmung setzt. Diesen Jugendlichen könnten selbstverständlich doch Angebote unterbreitet werden, aber auf einer anderen Basis als der „Schulpflicht“, Angebote eben, die ausgeschlagen werden können. Alleine, dass diese Option nicht vorgesehen ist, könnte ja schon zur Problemlage beitragen (viele Länder kennen nur eine Beschulungspflicht – sie erlaubt Homeschooling -, aber keine Schulpflicht). Die Schule ist ja nicht das Elternhaus, ebensowenig wie das Gemeinwesen eines ist.

Vorsicht oder Bedacht walten in Anke Hassels Ausführungen nicht, obwohl sie sich nur auf ihre Einschätzung stützt, auf sonst nichts. Es könnten die Gründe dafür differenziert erworgen werden, weshalb ein junger Mensch eine solche Haltung gegenüber der Schule hat, welchen Beitrag Lehrer dazu leisten, welchen die allgemeinen öffentlichen Debatten usw. Davon hinge nämlich ab, worin das Problem liegt und ob denn die allgemeine Schlulpflicht eine angemessene Problemlösung darstellt. Man kann nun nicht behaupten, dass es eine solche Diskussion nicht in differenzierter Form gäbe (siehe hier). Will man das differenziert betrachten, ist ein holzschnittartiges Beispiel wie oben wenig hilfreich.

Davon abgesehen muss gefragt werden, ob der Beispiel-Fall denn einer aus der Zukunft mit BGE ist? Treffen Jugendliche solche Entscheidungen nach Abwägen? Heute verlassen Jugendliche die Schule ohne Abschluss, ohne dass die allgemeine Schulpflicht das verhindern könnte. Ähnliche Erfahrungen machen auch Jugendämter mit Familien, die sich nicht erreihen lassen wollen. Und weil all das so ist, weil es also Menschen gibt, die wir nicht erreichen, soll allen gleichermaßen misstraut werden. Weil das solch schwierige Lebensgeschichten gibt, darf keiner ein BGE erhalten? Aus den Ausnahmen werden Regeln geschmiedet?

Sie fährt dann fort:

„Gibt es eine Evidenz außerhalb der Alltagserfahrung? Das iab hat gerade eine Studie zur Wirkung von Sanktionsmechanismen bei jungen Menschen veröffentlicht, die man so interpretieren kann, dass mehr Sanktionen zu mehr Arbeitsaufnahmen führen. Ist es sinnvoll junge Arbeitslose in Beschäftigung zu zwingen? Da werden sich die Geister scheiden, aber es nicht zu tun ist noch keine sinnvolle Arbeitsmarktpolitik.“

Was ist damit erreicht, dass mehr Sanktionen zu mehr Arbeitsaufnahmen führen? Darin kann doch nur eine Lösung gesehen werden, wenn „jeder Arbeitsplatz besser als keiner“ ist. Wer sagt, dass die Erfolge geringer wären, wenn mehr Vertrauen entgegengebracht würde? Mehr vertrauen darein, dass jeder erst einmal fähig ist, sich seinen Weg zu suchen – das erwarten wir ohnehin schon, und für den Fall, dass er das nicht ist, auf seine Verantwortung zu setzen, sich Hilfe zu suchen, z. B. in Form von Angeboten, die vorgehalten werden.

Es gibt sehr wohl Studien darüber, auf der Basis fallrekonstruktiver Verfahren, die besser verstehen lassen, wozu eine solche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik führt, ihre stigmatisierenden Folgen, der zerstörerischen Druck, den sie aufbaut (siehe z. B. hier). Diese Art der Forschung jenseits standardisierter Verfahren erlaubt es, Bildungsprozesse in ihrer Individuierungsgeschichte zu verstehen, was die Voraussetzung dafür ist, angemessene Lösungen finden zu können. Sie erlaubt aber auch, allgemeine Einsichten in die Lebensführung zu gewinnen, die sich heute darin bewähren muss, mit den enormen Autonomieanforderungen eines enttraditionalisierten Lebens klarzukommen. Das ist weder etwas Besonderes, noch etwa neu, denn diese Autonomiezumutung ist in unsere politische Ordnung eingeschrieben, die in ihr Zentrum die Staatsbürger als Legitimationsbasis staatlicher Gewalt stellt. In der politischen Grundordnung setzen wir auf diese Selbstbestimmung sehr wohl: Den Souverän bilden die Staatsbürger. In der Sozialpolitik bleibt von ihnen nicht viel übrig. Von ihnen ist womöglich nicht ganz zufällig keine Rede in Anke Hassels Überlegungen.

Sascha Liebermann