In einem Interview, das Zeit Online mit der neuen Vorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, geführt hat, geht es um vieles und es geht um ihr Verständnis von Arbeit, Sozialstaat und Sanktionen. Wäre es zu erwarten, dass seit ihrem Rücktritt als SPD Vorsitzende und ehemalige Bundesministerin sich womöglich ihr Verständnis diesbezüglich verändert hat (siehe unsere früheren Kommentare hier und hier)?
„ZEIT: Hätte Ihr Vater das, was man heute Care-Arbeit nennt, als Arbeit gelten lassen?
Nahles: Ja, bei uns wurde jede Arbeit anerkannt. Es gab eine typische Arbeitsteilung. Aber Arbeit habe ich bei uns zu Hause immer ganz stark als etwas Gemeinschaftliches erlebt, etwas, das ein »Wir« beinhaltet. Meine ersten Kindheitserinnerungen sind damit verbunden. Ich war vier Jahre alt, 1974 muss das also gewesen sein, da wurden Zuckerrüben auf dem Feld geerntet. Die haben wir unseren drei Kühen im Winter zugefüttert. Die Strünke wurden von den Erwachsenen abgeschnitten, die ließen sie einfach fallen, damit es schneller geht. Und die kleinsten Kinder mussten diese Strünke auf einen Haufen schichten. Die Belohnung war ein Glas selbst gemachter Himbeersaft. (lacht)“
Diese Ausführungen würden einen weiten Blick über die Leistungen erwarten, von denen ein Gemeinwesen lebt, denn Nahles unterscheidet hier nicht zwischen Erwerbsarbeit und unbezahlter Arbeit – beides wurde „anerkannt“. Aufschlussreich ist, dass das einfache Füreinanderdasein, hier der Eltern für die Kinder, keine Rolle spielt, davon lebt ein Gemeinwesen aber ebenso. Doch dazu äußert sie sich im Interview nicht weiter.
An einer späteren Stelle folgt dies:
„ZEIT: In der Debatte ums Fördern und Fordern war immer die Frage, wie man Leute ans Arbeiten kriegt, die nicht arbeiten wollen. Stellt sich diese Frage noch?
Nahles: Die stellt sich manchmal noch. Arbeitslosigkeit macht mit den Menschen etwas. Je länger du arbeitslos bist, desto weniger traust du dir selber zu. Arbeitslosigkeit wird, nach vielen Studien, als schwierigere Erfahrung empfunden als eine Scheidung! Der Verlust von Selbstbewusstsein, von sozialen Kontakten, der Verlust einer Aufgabe – egal was für eine Aufgabe das war. Die Frage ist nicht: Wollen die Menschen arbeiten? Sondern ob sie sich das zutrauen, ob sie wieder in einen Tagesablauf reinkommen. Wie weit Arbeit von ihrem Leben entfernt ist. Dafür brauchen wir den sozialen Arbeitsmarkt, wo wir die Menschen mehrere Jahre begleiten und anteilig auch das Gehalt bezahlen.“
Eine klassische SPD-Position, die sie hier vertritt. Warum allerdings muss man „Leute“, „die nicht arbeiten wollen“, dazu bekommen, doch zu arbeiten? Als Erziehungsmaßnahme? Welche Gründe haben sie dafür, sich dahingehend nicht einzubringen? Mindestens die Frage sollte gestellt werden. Für Nahles ist etwas anderes entscheidend, die Folgen von „Arbeitslosigkeit“. Der Verweis auf Studien führt noch nicht zu einer Erklärung dafür, weshalb diese Folgen entstehen – und Nahles differenziert nicht. Wer darüber hinweggeht, dass ein maßgeblicher Grund für diese Folgen die normative Bewertung von Erwerbsarbeit ist, es sich um ein Erwerbsgebot handelt, dem Folge geleistet werden soll, bleibt an der Oberfläche. Die strukturelle Stigmatisierung von Erwerbslosen rührt genau daher, dass sie dieser Norm nicht mehr folgen, ganz gleich aus welchen Gründen (eine Ausnahme: friktionelle Erwerbslosigkeit). Sie können auch nicht ausweichen in andere, vom Gemeinwesen ebenso anerkannte Tätigkeiten, denn die gibt es außerhalb des Erwerbsgebots nicht, sie gelten als zweitrangig, das reicht bis in die Familienpolitik hinein. Wer sich dafür entscheidet, nicht erwerbstätig zu sein, muss es sich leisten können und die Stigmatisierung auf sich nehmen, die damit einhergeht. Nahles verliert kein Wort über diesen Zusammenhang.
Wenn die Frage nicht ist, ob Menschen arbeiten wollen, sondern ob sie es sich „zutrauen“, dann benötigt es keine Sanktionen bzw. sanktionsbewehrte Leistungen, dann benötigt es Angebote, die auch ausgeschlagen werden können, denn dafür hätten sie dann Gründe. Erst eine Aufhebung des Erwerbsgebots nimmt den Druck gerade von denjenigen, die es sich nicht zutrauen – wenn das denn der Grund wäre.
Direkt im Anschluss folgt eine treffende Nachfrage:
„ZEIT: Wenn ‚Wollen‘ keine Kategorie mehr ist, warum braucht es dann trotzdem weiterhin Sanktionen bei der Hilfe für Langzeitarbeitslose?
Nahles: Die Bundesagentur für Arbeit spricht in rund drei Prozent der Fälle Sanktionen aus. Das steht für uns wirklich nicht im Mittelpunkt.“
Eine empiristische Verwechslung liegt hier vor, denn auch wenn es anteilig nur wenige Personen sind, die sanktioniert werden, entfaltet das Erwerbsgebot und die aus ihm abgeleitete Sanktionsdrohung (daran ändert die Aussetzung der Sanktionen nicht allzuviel) ihre Wirkung – und sie gilt nicht nur für Erwerbslose. An den Sanktionen allerdings hängen konkrete Personen mit ihrem Leben, es stellt sich also die Frage, ob Sanktionen überhaupt angemessen sind und wenn die Auffassung vertreten wird, sie seien angemessen, muss ihre Wirksamkeit belegt werden (was zuletzt das Bundesverfassungsgericht forderte). Bedenkt man hierbei noch, dass etwa 75% der Sanktionen Terminversäumnisse betreffen, stellt sich die Frage um so mehr.
Nochmals wird nachgehakt:
„ZEIT: Trotzdem braucht man sie?
Nahles: Ich habe eine ganz klare Haltung: In unserem Land gibt es einen Sozialstaat. Wenn man die Hilfe beansprucht, die andere Arbeitnehmer erwirtschaften, ist das Mindeste, dass man versucht, sich zu beteiligen. Damit man schauen kann, welche Probleme bestehen: Ein Suchtproblem? Eine psychische Krankheit? Fehlende Kinderbetreuung? Wir machen auch aufsuchende Arbeit, wir gehen zu den Menschen, weil wir während der Pandemie zu vielen den persönlichen Kontakt nicht haben halten können. Und im Übrigen: Im Straßenverkehr gibt es ja auch Konsequenzen, wenn man sich nicht an Gesetze hält.“
Hier werden wieder zwei verschiedene Dinge in einen Topf geworfen. In der Tat gilt, das Gesetze, solange sie in Kraft sind, nicht nach privaten Vorlieben verändert werden dürfen. Allerdings begründen sich Gesetze nicht aus sich selbst, sondern aus einer parlamentarischen Entscheidung und der Legitimität, die sie dadurch erlangen. Wie Nahles dazu hinleitet, zeigt den blinden Fleck, obwohl sie zu Beginn des Interviews noch von einem weiten Verständnis von Arbeit sprach. Hier nun gilt die „unbezahlte Arbeit“ nichts, das sorgende Füreinanderdasein ist eben keine Arbeit in Nahles und des Sozialstaats Sinn. Dass das Gemeinwesen aber von diesen Sorgetätigkeiten lebt, dass durch sie überhaupt erst diejenigen aufwachsen können, die dann später Verantwortung in jeder Hinsicht zu übernehmen in der Lage sind, hat sie auf dem Weg von Beginn des Interviews bis hier entweder vergessen oder sie bewertet das in der Tat anders.
Hier nennt Nahles ein Beispiel dafür, wann Sanktionen „gerecht“ sind:
„ZEIT: Können Sie ein Beispiel nennen, wo es gerecht ist, dass sanktioniert wird?
Nahles: Es gibt Leute, die sich gar nicht mehr mit uns ins Gespräch begeben. Und wenn das mehrmals passiert, gibt es eine Leistungsminderung. Nicht mehr hundert Prozent, das habe ich immer kritisch gesehen. Aber im Ausnahmefall braucht man dieses Instrument.“
Weshalb braucht „man“ dieses Instrument? Wenn die Agenturen für Arbeit „aufsuchende Arbeit“ leisten und mit Leistungsbeziehern ins Gespräch kommen wollen, dabei indes feststellen, dass jemand am besten damit gestellt ist, wenn sein Nicht-Wollen anerkennt wird, weil ohnehin er für eine kontinuierliche Tätigkeit nicht zu gewinnen oder gar zu gebrauchen wäre – dann wäre es doch naheliegend zu sagen, dafür ist es nicht sinnvoll, Zeit zu verschwenden. Hier ruft wieder das Gesetz, auf das sie sich bezogen hatte.
Ein solches Interview zeigt in aller Deutlichkeit, welche Hürden die Diskussion um ein Bedingungsloses Grundeinkommen zu nehmen hat.
Sascha Liebermann